Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_201.001 ple_201.032 1) ple_201.037 Auch in dieser Hinsicht wie in mancher anderen ist Otto Ludwigs Roman ple_201.038 "Zwischen Himmel und Erde", obwohl in einem gemilderten Realismus gehalten, ein ple_201.039 Vorläufer der modernen naturalistischen Romandichtung, wie die "Maria Magdalena" seines ple_201.040 Zeitgenossen Hebbel der entsprechenden Dramatik. 2) ple_201.041
Selbstverständlich können diese Begriffe hier nur im ästhetischen Sinne in Betracht ple_201.042 kommen, nicht wie Schiller in seinem Aufsatz "Über die Verwendung des Gemeinen ple_201.043 und Niedrigen in der Kunst" sie behandelt, im moralischen. ple_201.001 ple_201.032 1) ple_201.037 Auch in dieser Hinsicht wie in mancher anderen ist Otto Ludwigs Roman ple_201.038 „Zwischen Himmel und Erde“, obwohl in einem gemilderten Realismus gehalten, ein ple_201.039 Vorläufer der modernen naturalistischen Romandichtung, wie die „Maria Magdalena“ seines ple_201.040 Zeitgenossen Hebbel der entsprechenden Dramatik. 2) ple_201.041
Selbstverständlich können diese Begriffe hier nur im ästhetischen Sinne in Betracht ple_201.042 kommen, nicht wie Schiller in seinem Aufsatz „Über die Verwendung des Gemeinen ple_201.043 und Niedrigen in der Kunst“ sie behandelt, im moralischen. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0215" n="201"/><lb n="ple_201.001"/> Romanen alten Stils, durch den ersten Blick entflammt: langsam erstarkt <lb n="ple_201.002"/> der Einfluß, den ein Mensch auf den andern ausübt; von der Kindheit <lb n="ple_201.003"/> auf schlingen sich unsichtbare Fäden, die die Seele des Menschen <lb n="ple_201.004"/> und damit auch sein Schicksal lenken. Es ist der Vorteil, den die epische <lb n="ple_201.005"/> Dichtung vor der dramatischen voraus hat, daß sie diesen Fäden nachgehen, <lb n="ple_201.006"/> ihr langsames Wachstum verfolgen, ihren Verlauf in seinen Windungen aufdecken <lb n="ple_201.007"/> kann. Daher haben die großen Romandichter aller Zeiten, auch <lb n="ple_201.008"/> diejenigen, die dem Naturalismus ganz fern standen, nicht sowohl auf Konzentration <lb n="ple_201.009"/> der Form als auf Klarheit der Entwicklung den entscheidenden <lb n="ple_201.010"/> Wert gelegt: so Goethe im Wilhelm Meister und in den Wahlverwandtschaften, <lb n="ple_201.011"/> so Balzac und Georges Sand, so Dickens oder George Elliot: sie <lb n="ple_201.012"/> haben somit im gewissen Sinne der naturalistischen Technik vorgearbeitet. <lb n="ple_201.013"/> Diese freilich, wo sie ausgeprägt auftritt, gestaltet noch entschiedener <lb n="ple_201.014"/> aus dem einzelnen und einzelsten ins Ganze. Es gleicht ein Tag dem <lb n="ple_201.015"/> andern wie im Alltagsleben der Wirklichkeit. Die gleichen Szenen wiederholen <lb n="ple_201.016"/> sich mit kleinen Abweichungen, anfangs kaum merklich, aber die <lb n="ple_201.017"/> Unterschiede verstärken sich im Laufe der Entwicklung, die Leidenschaften <lb n="ple_201.018"/> wachsen allmählich oder sterben ebenso allmählich ab. Der Schluß, <lb n="ple_201.019"/> die Katastrophe erscheint als ein notwendiges, als ein längst erwartetes <lb n="ple_201.020"/> Glied der Kette, die wir vor uns haben ablaufen sehen; so in Balzacs <lb n="ple_201.021"/> Eugenie Grandet, in Flauberts berühmtem Musterroman „Madame Bovary“, <lb n="ple_201.022"/> in Zolas „L'oeuvre“ und besonders deutlich in „Une page d'amour“: drei <lb n="ple_201.023"/> Menschen in derselben Stube dreiviertel Jahre hindurch immer wieder in <lb n="ple_201.024"/> der gleichen oder ähnlichen Situation, alle Jahreszeiten spielen gleichsam <lb n="ple_201.025"/> von außen hinein, und langsam, langsam sehen wir das Unvermeidliche <lb n="ple_201.026"/> kommen. In ganz derselben Weise sind Guy de Maupassants Bücher „Une <lb n="ple_201.027"/> vie“, „Fort comme la mort“ künstlerisch gestaltet. Daß der Naturalismus <lb n="ple_201.028"/> auf Spannung im dramatischen Sinne des Wortes bei dieser Art von Komposition <lb n="ple_201.029"/> verzichten muß, sieht man wohl. Ein ästhetischer Schaden ist <lb n="ple_201.030"/> das nicht, und für die künstlerische Darstellung seelischer Entwicklung <lb n="ple_201.031"/> scheint hiermit doch die eigentlich entsprechende Form gefunden zu sein.<note xml:id="ple_201_1" place="foot" n="1)"><lb n="ple_201.037"/> Auch in dieser Hinsicht wie in mancher anderen ist Otto Ludwigs Roman <lb n="ple_201.038"/> „Zwischen Himmel und Erde“, obwohl in einem gemilderten Realismus gehalten, ein <lb n="ple_201.039"/> Vorläufer der modernen naturalistischen Romandichtung, wie die „Maria Magdalena“ seines <lb n="ple_201.040"/> Zeitgenossen Hebbel der entsprechenden Dramatik.</note> </p> <p><lb n="ple_201.032"/> Endlich noch zu einem vierten Punkt, in welchem die beiden Stilarten <lb n="ple_201.033"/> sich unterscheiden. Es ist die Verwendung des Häßlichen und Abstoßenden <lb n="ple_201.034"/> oder auch des Gemeinen und Niedrigen,<note xml:id="ple_201_2" place="foot" n="2)"><lb n="ple_201.041"/> Selbstverständlich können diese Begriffe hier nur im ästhetischen Sinne in Betracht <lb n="ple_201.042"/> kommen, nicht wie Schiller in seinem Aufsatz „Über die Verwendung des Gemeinen <lb n="ple_201.043"/> und Niedrigen in der Kunst“ sie behandelt, im moralischen.</note> nicht in sprachlicher, <lb n="ple_201.035"/> sondern in sachlicher Hinsicht. Der Idealstil in der ganzen Strenge, <lb n="ple_201.036"/> wie ihn etwa die französische Tragödie des grand siècle oder Goethe </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [201/0215]
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Romanen alten Stils, durch den ersten Blick entflammt: langsam erstarkt ple_201.002
der Einfluß, den ein Mensch auf den andern ausübt; von der Kindheit ple_201.003
auf schlingen sich unsichtbare Fäden, die die Seele des Menschen ple_201.004
und damit auch sein Schicksal lenken. Es ist der Vorteil, den die epische ple_201.005
Dichtung vor der dramatischen voraus hat, daß sie diesen Fäden nachgehen, ple_201.006
ihr langsames Wachstum verfolgen, ihren Verlauf in seinen Windungen aufdecken ple_201.007
kann. Daher haben die großen Romandichter aller Zeiten, auch ple_201.008
diejenigen, die dem Naturalismus ganz fern standen, nicht sowohl auf Konzentration ple_201.009
der Form als auf Klarheit der Entwicklung den entscheidenden ple_201.010
Wert gelegt: so Goethe im Wilhelm Meister und in den Wahlverwandtschaften, ple_201.011
so Balzac und Georges Sand, so Dickens oder George Elliot: sie ple_201.012
haben somit im gewissen Sinne der naturalistischen Technik vorgearbeitet. ple_201.013
Diese freilich, wo sie ausgeprägt auftritt, gestaltet noch entschiedener ple_201.014
aus dem einzelnen und einzelsten ins Ganze. Es gleicht ein Tag dem ple_201.015
andern wie im Alltagsleben der Wirklichkeit. Die gleichen Szenen wiederholen ple_201.016
sich mit kleinen Abweichungen, anfangs kaum merklich, aber die ple_201.017
Unterschiede verstärken sich im Laufe der Entwicklung, die Leidenschaften ple_201.018
wachsen allmählich oder sterben ebenso allmählich ab. Der Schluß, ple_201.019
die Katastrophe erscheint als ein notwendiges, als ein längst erwartetes ple_201.020
Glied der Kette, die wir vor uns haben ablaufen sehen; so in Balzacs ple_201.021
Eugenie Grandet, in Flauberts berühmtem Musterroman „Madame Bovary“, ple_201.022
in Zolas „L'oeuvre“ und besonders deutlich in „Une page d'amour“: drei ple_201.023
Menschen in derselben Stube dreiviertel Jahre hindurch immer wieder in ple_201.024
der gleichen oder ähnlichen Situation, alle Jahreszeiten spielen gleichsam ple_201.025
von außen hinein, und langsam, langsam sehen wir das Unvermeidliche ple_201.026
kommen. In ganz derselben Weise sind Guy de Maupassants Bücher „Une ple_201.027
vie“, „Fort comme la mort“ künstlerisch gestaltet. Daß der Naturalismus ple_201.028
auf Spannung im dramatischen Sinne des Wortes bei dieser Art von Komposition ple_201.029
verzichten muß, sieht man wohl. Ein ästhetischer Schaden ist ple_201.030
das nicht, und für die künstlerische Darstellung seelischer Entwicklung ple_201.031
scheint hiermit doch die eigentlich entsprechende Form gefunden zu sein. 1)
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Endlich noch zu einem vierten Punkt, in welchem die beiden Stilarten ple_201.033
sich unterscheiden. Es ist die Verwendung des Häßlichen und Abstoßenden ple_201.034
oder auch des Gemeinen und Niedrigen, 2) nicht in sprachlicher, ple_201.035
sondern in sachlicher Hinsicht. Der Idealstil in der ganzen Strenge, ple_201.036
wie ihn etwa die französische Tragödie des grand siècle oder Goethe
1) ple_201.037
Auch in dieser Hinsicht wie in mancher anderen ist Otto Ludwigs Roman ple_201.038
„Zwischen Himmel und Erde“, obwohl in einem gemilderten Realismus gehalten, ein ple_201.039
Vorläufer der modernen naturalistischen Romandichtung, wie die „Maria Magdalena“ seines ple_201.040
Zeitgenossen Hebbel der entsprechenden Dramatik.
2) ple_201.041
Selbstverständlich können diese Begriffe hier nur im ästhetischen Sinne in Betracht ple_201.042
kommen, nicht wie Schiller in seinem Aufsatz „Über die Verwendung des Gemeinen ple_201.043
und Niedrigen in der Kunst“ sie behandelt, im moralischen.
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