Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_206.001 ple_206.023 ple_206.001 ple_206.023 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0220" n="206"/><lb n="ple_206.001"/> Bewußtsein einer höheren Aufgabe: im Individuellen das Typische, im <lb n="ple_206.002"/> Wirklichen die tiefere Wahrheit und allgemeine Notwendigkeit zu zeigen. <lb n="ple_206.003"/> Wo nun freilich die Auswahl eine allzu strenge ist und die individuellen <lb n="ple_206.004"/> Züge zu sehr verblassen, werden die Charaktere farblos und blutleer, wie <lb n="ple_206.005"/> das z. B. in der klassischen Tragödie der Franzosen der Fall ist. Ja, sie <lb n="ple_206.006"/> werden in ihrer typischen Allgemeinheit zu bloßen Schemen, die schließlich <lb n="ple_206.007"/> nichts weiter als abstrakte Sinnbilder sind: statt der <hi rendition="#g">Typen</hi> schafft <lb n="ple_206.008"/> der Dichter <hi rendition="#g">Allegorien.</hi> Mehrfach ist dies in Goethes späteren dramatischen <lb n="ple_206.009"/> Dichtungen der Fall, selbst in der Pandora und der viel bewunderten <lb n="ple_206.010"/> und viel gescholtenen Helena. Die zahlreichen einzelnen Schönheiten <lb n="ple_206.011"/> sollten nicht darüber hinwegtäuschen, daß hier keine gesehenen und <lb n="ple_206.012"/> erlebten Charaktere zu einem allgemeingültigen Bilde veredelt, sondern <lb n="ple_206.013"/> daß geistvolle Ideen in Gestalten verkörpert sind, die zwar menschliche <lb n="ple_206.014"/> Züge und zum Teil sehr anmutvolle Züge tragen, aber kein inneres Leben <lb n="ple_206.015"/> haben und kein Miterleben möglich machen. Die <hi rendition="#g">Allegorie,</hi> das Spiel <lb n="ple_206.016"/> mit dem Sinnbild, ist in der Poesie dann berechtigt und dichterisch wirksam, <lb n="ple_206.017"/> wenn es sich darum handelt, einen abstrakten Gedanken anschaulich <lb n="ple_206.018"/> und lebendig zu machen, also in Gedichten, die der Gedankenlyrik angehören, <lb n="ple_206.019"/> wie etwa in Goethes „Meine Göttin“. Sie muß aber stets ihre <lb n="ple_206.020"/> Wirkung verfehlen, wo sie in der dramatischen oder epischen Dichtung <lb n="ple_206.021"/> mit dem Anspruch auftritt, Teilnahme für Handlungen oder Gestalten zu <lb n="ple_206.022"/> erwecken, die nichts als Verkörperungen allgemeiner Ideen sind.</p> <p><lb n="ple_206.023"/> Daher finden wir denn, wenn auch nicht bei allen, so doch bei einigen <lb n="ple_206.024"/> der größten Dichter der Weltliteratur das deutliche Streben, den Gegensatz <lb n="ple_206.025"/> zu überbrücken und die Vorzüge beider Stilarten zu vereinigen. Shakespeare <lb n="ple_206.026"/> verfährt bekanntlich so, daß er die ernsten oder tragischen Szenen, die bei <lb n="ple_206.027"/> ihm durchweg auf den Höhen der Gesellschaft spielen, im pathetischen <lb n="ple_206.028"/> Idealstil, die Volksszenen dagegen auch in den Tragödien naturalistisch <lb n="ple_206.029"/> behandelt. Dieses Nebeneinander von zwei Stilarten ist freilich nur ein <lb n="ple_206.030"/> unbeholfenes Mittel, um den Anforderungen beider Richtungen zu genügen, <lb n="ple_206.031"/> und es ist ebenso begreiflich wie berechtigt, daß unsere deutschen Klassiker <lb n="ple_206.032"/> statt dessen die Vereinigung beider auf einer mittleren Linie gesucht haben. <lb n="ple_206.033"/> Ihnen schwebte eine Menschendarstellung vor, die zugleich typische Bedeutung <lb n="ple_206.034"/> haben sollte, ohne doch abstrakt zu werden, und individuelle <lb n="ple_206.035"/> Anschaulichkeit, ohne in peinliche Wiedergabe äußerer Wirklichkeit zu verfallen. <lb n="ple_206.036"/> Das ist es, was Goethe als <hi rendition="#g">symbolische</hi> Kunst bezeichnete, und <lb n="ple_206.037"/> eine solche strebte er sowohl wie Schiller in immer neuen Stilformen an, <lb n="ple_206.038"/> nachdem sie die naturalistische Epoche, mit der ein jeder von beiden seine <lb n="ple_206.039"/> Schöpferlaufbahn begonnen, überwunden hatten. Begreiflich, ja notwendig <lb n="ple_206.040"/> war es, daß sie sich dabei bald dem einen, bald dem anderen Extrem <lb n="ple_206.041"/> mehr näherten: es ist eben nicht eine Linie, sondern vielmehr eine breite <lb n="ple_206.042"/> Zone, die beide Richtungen scheidet. Goethe findet mit genialem Takt <lb n="ple_206.043"/> in der Iphigenie, im Tasso und im Egmont, er findet nicht minder in </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [206/0220]
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Bewußtsein einer höheren Aufgabe: im Individuellen das Typische, im ple_206.002
Wirklichen die tiefere Wahrheit und allgemeine Notwendigkeit zu zeigen. ple_206.003
Wo nun freilich die Auswahl eine allzu strenge ist und die individuellen ple_206.004
Züge zu sehr verblassen, werden die Charaktere farblos und blutleer, wie ple_206.005
das z. B. in der klassischen Tragödie der Franzosen der Fall ist. Ja, sie ple_206.006
werden in ihrer typischen Allgemeinheit zu bloßen Schemen, die schließlich ple_206.007
nichts weiter als abstrakte Sinnbilder sind: statt der Typen schafft ple_206.008
der Dichter Allegorien. Mehrfach ist dies in Goethes späteren dramatischen ple_206.009
Dichtungen der Fall, selbst in der Pandora und der viel bewunderten ple_206.010
und viel gescholtenen Helena. Die zahlreichen einzelnen Schönheiten ple_206.011
sollten nicht darüber hinwegtäuschen, daß hier keine gesehenen und ple_206.012
erlebten Charaktere zu einem allgemeingültigen Bilde veredelt, sondern ple_206.013
daß geistvolle Ideen in Gestalten verkörpert sind, die zwar menschliche ple_206.014
Züge und zum Teil sehr anmutvolle Züge tragen, aber kein inneres Leben ple_206.015
haben und kein Miterleben möglich machen. Die Allegorie, das Spiel ple_206.016
mit dem Sinnbild, ist in der Poesie dann berechtigt und dichterisch wirksam, ple_206.017
wenn es sich darum handelt, einen abstrakten Gedanken anschaulich ple_206.018
und lebendig zu machen, also in Gedichten, die der Gedankenlyrik angehören, ple_206.019
wie etwa in Goethes „Meine Göttin“. Sie muß aber stets ihre ple_206.020
Wirkung verfehlen, wo sie in der dramatischen oder epischen Dichtung ple_206.021
mit dem Anspruch auftritt, Teilnahme für Handlungen oder Gestalten zu ple_206.022
erwecken, die nichts als Verkörperungen allgemeiner Ideen sind.
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Daher finden wir denn, wenn auch nicht bei allen, so doch bei einigen ple_206.024
der größten Dichter der Weltliteratur das deutliche Streben, den Gegensatz ple_206.025
zu überbrücken und die Vorzüge beider Stilarten zu vereinigen. Shakespeare ple_206.026
verfährt bekanntlich so, daß er die ernsten oder tragischen Szenen, die bei ple_206.027
ihm durchweg auf den Höhen der Gesellschaft spielen, im pathetischen ple_206.028
Idealstil, die Volksszenen dagegen auch in den Tragödien naturalistisch ple_206.029
behandelt. Dieses Nebeneinander von zwei Stilarten ist freilich nur ein ple_206.030
unbeholfenes Mittel, um den Anforderungen beider Richtungen zu genügen, ple_206.031
und es ist ebenso begreiflich wie berechtigt, daß unsere deutschen Klassiker ple_206.032
statt dessen die Vereinigung beider auf einer mittleren Linie gesucht haben. ple_206.033
Ihnen schwebte eine Menschendarstellung vor, die zugleich typische Bedeutung ple_206.034
haben sollte, ohne doch abstrakt zu werden, und individuelle ple_206.035
Anschaulichkeit, ohne in peinliche Wiedergabe äußerer Wirklichkeit zu verfallen. ple_206.036
Das ist es, was Goethe als symbolische Kunst bezeichnete, und ple_206.037
eine solche strebte er sowohl wie Schiller in immer neuen Stilformen an, ple_206.038
nachdem sie die naturalistische Epoche, mit der ein jeder von beiden seine ple_206.039
Schöpferlaufbahn begonnen, überwunden hatten. Begreiflich, ja notwendig ple_206.040
war es, daß sie sich dabei bald dem einen, bald dem anderen Extrem ple_206.041
mehr näherten: es ist eben nicht eine Linie, sondern vielmehr eine breite ple_206.042
Zone, die beide Richtungen scheidet. Goethe findet mit genialem Takt ple_206.043
in der Iphigenie, im Tasso und im Egmont, er findet nicht minder in
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