Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_205.001 ple_205.017 ple_205.001 ple_205.017 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0219" n="205"/><lb n="ple_205.001"/> hierfür, aber auch der Hofmarschall von Kalb oder der Musikus Miller <lb n="ple_205.002"/> in Kabale und Liebe, der Mohr in Fiesko und, um in die Neuzeit zu <lb n="ple_205.003"/> greifen, die Gestalten Flauberts und Zolas wie Tolstois und Dostojewskis <lb n="ple_205.004"/> zeigen uns das Gleiche. Vor allem ist auch hier die Sprache Mittel und <lb n="ple_205.005"/> Kennzeichen der charakterisierenden Kunst. Sie wird individuell behandelt, <lb n="ple_205.006"/> nach Rang und Bildungssphären abgestuft; auch der einzelne wird durch <lb n="ple_205.007"/> eigentümliche Gewohnheiten und Redewendungen von den anderen unterschieden. <lb n="ple_205.008"/> Alles das vermeidet der Idealstil. Die Sprache seiner Dichtungen <lb n="ple_205.009"/> ist gleichmäßig vornehm und getragen; die Personen werden durch Eigenschaften <lb n="ple_205.010"/> allgemeiner Art gekennzeichnet, die sie zwar von anders gearteten <lb n="ple_205.011"/> Menschen unterscheiden, aber zugleich mit ähnlich gerichteten zu einer <lb n="ple_205.012"/> Kategorie verbinden. Die Art, wie die streng ideale Kunst charakterisiert, <lb n="ple_205.013"/> läßt sich etwa an Goethes Iphigenie und Wilhelm Meister oder an Schillers <lb n="ple_205.014"/> Tell am besten veranschaulichen. Es sind bestimmte, große, allgemeine <lb n="ple_205.015"/> Züge, welche jede einzelne Person zugleich kennzeichnen und ins Typische <lb n="ple_205.016"/> erheben.</p> <p><lb n="ple_205.017"/> Naturgemäß erscheinen aber die typische und die individualisierende <lb n="ple_205.018"/> Zeichnung weit seltener in ihrer extremen Schärfe als in zahllosen Abstufungen <lb n="ple_205.019"/> und Zwischenschattierungen in der Poesie. Die Unendlichkeit <lb n="ple_205.020"/> des Kleinen und Einzelnen, aus der das Individuum besteht, kann kein <lb n="ple_205.021"/> Künstler wiedergeben, und wenn er es könnte, würde vieles von dem, was <lb n="ple_205.022"/> er zeigt, niemanden interessieren. Auch der charakterisierende Naturalist <lb n="ple_205.023"/> bedarf mithin einer Auswahl unter den vorhandenen Zügen, so gut wie <lb n="ple_205.024"/> der Idealist; er nimmt nur mehr von der Wirklichkeit auf als jener, und <lb n="ple_205.025"/> schon dies beweist, daß es sich in der künstlerischen Praxis immer nur <lb n="ple_205.026"/> um ein solches Mehr oder Weniger handelt. Wo nun aber die Charakteristik <lb n="ple_205.027"/> sich sehr ins Kleine und Einzelne verbreitet, wird sie fast stets einen <lb n="ple_205.028"/> komischen oder doch wenigstens humoristischen Eindruck hervorbringen: <lb n="ple_205.029"/> daher der Dichter, dessen Stärke lebenstreue und scharfe Schilderung der <lb n="ple_205.030"/> Charaktere in ihren Einzelheiten ist, immer etwas vom Humoristen haben <lb n="ple_205.031"/> wird, wie Dickens oder Fritz Reuter. Zumal wo kleine Züge des täglichen <lb n="ple_205.032"/> Lebens mit dem Ernst einer außergewöhnlichen und bedeutsamen Situation <lb n="ple_205.033"/> kontrastieren, wirken sie komisch, wie etwa in Kein Hüsung die Schilderung <lb n="ple_205.034"/> des alten Knechts, der sich zum sonntäglichen Kirchgang rasiert. <lb n="ple_205.035"/> Dem naturalistischen Dichter wird es freilich oft genug willkommen sein, <lb n="ple_205.036"/> wenn sich in dieser Weise der humoristische Eindruck in das Tragische <lb n="ple_205.037"/> mischt: man denke etwa an den Erguß des Musikus Miller in Kabale <lb n="ple_205.038"/> und Liebe, als ihm Ferdinand den Beutel Geld geschenkt hat, mit dem er <lb n="ple_205.039"/> dem Ahnungslosen das Leben seiner Tochter bezahlen will. Allein <lb n="ple_205.040"/> die idealisierende Kunst widerstreitet dieser Vermischung, sie strebt nach <lb n="ple_205.041"/> einfachen großen Linien und Wirkungen. Sie verliert dadurch, daß sie <lb n="ple_205.042"/> das Individuelle zurücktreten läßt, unleugbar etwas von der Lebendigkeit, <lb n="ple_205.043"/> die eben nur am Individuellen haftet, allein sie verschmerzt das in dem </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [205/0219]
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hierfür, aber auch der Hofmarschall von Kalb oder der Musikus Miller ple_205.002
in Kabale und Liebe, der Mohr in Fiesko und, um in die Neuzeit zu ple_205.003
greifen, die Gestalten Flauberts und Zolas wie Tolstois und Dostojewskis ple_205.004
zeigen uns das Gleiche. Vor allem ist auch hier die Sprache Mittel und ple_205.005
Kennzeichen der charakterisierenden Kunst. Sie wird individuell behandelt, ple_205.006
nach Rang und Bildungssphären abgestuft; auch der einzelne wird durch ple_205.007
eigentümliche Gewohnheiten und Redewendungen von den anderen unterschieden. ple_205.008
Alles das vermeidet der Idealstil. Die Sprache seiner Dichtungen ple_205.009
ist gleichmäßig vornehm und getragen; die Personen werden durch Eigenschaften ple_205.010
allgemeiner Art gekennzeichnet, die sie zwar von anders gearteten ple_205.011
Menschen unterscheiden, aber zugleich mit ähnlich gerichteten zu einer ple_205.012
Kategorie verbinden. Die Art, wie die streng ideale Kunst charakterisiert, ple_205.013
läßt sich etwa an Goethes Iphigenie und Wilhelm Meister oder an Schillers ple_205.014
Tell am besten veranschaulichen. Es sind bestimmte, große, allgemeine ple_205.015
Züge, welche jede einzelne Person zugleich kennzeichnen und ins Typische ple_205.016
erheben.
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Naturgemäß erscheinen aber die typische und die individualisierende ple_205.018
Zeichnung weit seltener in ihrer extremen Schärfe als in zahllosen Abstufungen ple_205.019
und Zwischenschattierungen in der Poesie. Die Unendlichkeit ple_205.020
des Kleinen und Einzelnen, aus der das Individuum besteht, kann kein ple_205.021
Künstler wiedergeben, und wenn er es könnte, würde vieles von dem, was ple_205.022
er zeigt, niemanden interessieren. Auch der charakterisierende Naturalist ple_205.023
bedarf mithin einer Auswahl unter den vorhandenen Zügen, so gut wie ple_205.024
der Idealist; er nimmt nur mehr von der Wirklichkeit auf als jener, und ple_205.025
schon dies beweist, daß es sich in der künstlerischen Praxis immer nur ple_205.026
um ein solches Mehr oder Weniger handelt. Wo nun aber die Charakteristik ple_205.027
sich sehr ins Kleine und Einzelne verbreitet, wird sie fast stets einen ple_205.028
komischen oder doch wenigstens humoristischen Eindruck hervorbringen: ple_205.029
daher der Dichter, dessen Stärke lebenstreue und scharfe Schilderung der ple_205.030
Charaktere in ihren Einzelheiten ist, immer etwas vom Humoristen haben ple_205.031
wird, wie Dickens oder Fritz Reuter. Zumal wo kleine Züge des täglichen ple_205.032
Lebens mit dem Ernst einer außergewöhnlichen und bedeutsamen Situation ple_205.033
kontrastieren, wirken sie komisch, wie etwa in Kein Hüsung die Schilderung ple_205.034
des alten Knechts, der sich zum sonntäglichen Kirchgang rasiert. ple_205.035
Dem naturalistischen Dichter wird es freilich oft genug willkommen sein, ple_205.036
wenn sich in dieser Weise der humoristische Eindruck in das Tragische ple_205.037
mischt: man denke etwa an den Erguß des Musikus Miller in Kabale ple_205.038
und Liebe, als ihm Ferdinand den Beutel Geld geschenkt hat, mit dem er ple_205.039
dem Ahnungslosen das Leben seiner Tochter bezahlen will. Allein ple_205.040
die idealisierende Kunst widerstreitet dieser Vermischung, sie strebt nach ple_205.041
einfachen großen Linien und Wirkungen. Sie verliert dadurch, daß sie ple_205.042
das Individuelle zurücktreten läßt, unleugbar etwas von der Lebendigkeit, ple_205.043
die eben nur am Individuellen haftet, allein sie verschmerzt das in dem
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