Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_208.001 ple_208.023 ple_208.001 ple_208.023 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0222" n="208"/><lb n="ple_208.001"/> auch immer zugleich einen Ideendichter zu sehen, d. h. zu glauben, daß <lb n="ple_208.002"/> er nicht von der lebendigen Anschauung des Wirklichen, sondern von <lb n="ple_208.003"/> allgemeinen Gedanken über das Wirkliche ausginge, die er dann lebendig <lb n="ple_208.004"/> zu verkörpern suche. In Wahrheit ist bei keinem echten Künstler diese <lb n="ple_208.005"/> Gefahr groß, selbst nicht bei so gedankentiefen Dichtern, wie unsere <lb n="ple_208.006"/> Klassiker waren. Goethe ist, wie wir gesehen haben, in seinen späteren <lb n="ple_208.007"/> Lebensjahren vereinzelt in sie verfallen, Schiller, dem allgemeinen Vorurteile <lb n="ple_208.008"/> zum Trotz, fast niemals; nur Max und Thekla bilden eine leicht erkennbare <lb n="ple_208.009"/> Ausnahme. Auch Hebbel, der ein Grübler war, von psychologischen <lb n="ple_208.010"/> und kulturhistorischen Problemen bewegt und erfüllt, ist doch niemals von <lb n="ple_208.011"/> allgemeinen und lehrhaften Gedanken, sondern stets von konkreten Anschauungen <lb n="ple_208.012"/> des Lebens und der Geschichte ausgegangen; und ein Werk, <lb n="ple_208.013"/> wie Grillparzers Sappho, das einen allgemeinen Gedanken zum deutlichsten <lb n="ple_208.014"/> Ausdruck bringt, ist zunächst nichts anderes als die Verkörperung innerer <lb n="ple_208.015"/> Erlebnisse des Dichters. Daß solche Erlebnisse und Anschauungen im <lb n="ple_208.016"/> Laufe einer Dichtung auch in der Form allgemeiner Gedanken ausgesprochen <lb n="ple_208.017"/> werden, liegt nahe. Will man sie dann als <hi rendition="#g">Grundgedanken</hi> oder <hi rendition="#g">Idee</hi> <lb n="ple_208.018"/> des Werkes bezeichnen, so ist dieser Ausdruck am Ende nicht besser <lb n="ple_208.019"/> und nicht schlechter wie viele andere; nur darf er nicht zu der Meinung <lb n="ple_208.020"/> verführen, daß der Dichter von einem solchen Gedanken in seiner abstrakten <lb n="ple_208.021"/> Form ausgegangen sei oder daß es gar im Wesen seiner Kunstrichtung <lb n="ple_208.022"/> liege, von einer solchen auszugehen.</p> <p><lb n="ple_208.023"/> Dagegen zeigt die Literaturgeschichte umgekehrt die zunächst befremdliche <lb n="ple_208.024"/> Tatsache, daß der Naturalismus, auf die Dauer, wenigstens fast stets in <lb n="ple_208.025"/> eine ethische oder soziale Tendenz verfällt. Es scheint das ein Widerspruch <lb n="ple_208.026"/> und ist doch natürlich genug. Jene gutmütige Verliebtheit in die Dinge, <lb n="ple_208.027"/> von der Goethe spricht (vgl. S. 70), der nichts unbedeutend erscheint, <lb n="ple_208.028"/> was <hi rendition="#g">ist,</hi> und der die treue Darstellung der Natur in all ihren Zügen als <lb n="ple_208.029"/> Ziel künstlerischen Strebens vorschwebt, kann keine wahre Dichtung, <lb n="ple_208.030"/> wenigstens keine der gegenständlichen Gattungen entbehren. Allein die <lb n="ple_208.031"/> bloße ideenlose Wiedergabe eines Stücks Wirklichkeit kann wohl in den <lb n="ple_208.032"/> bildenden Künsten befriedigen, weil hier die Schwierigkeiten der Technik so <lb n="ple_208.033"/> erheblich sind, daß sie unter Umständen das höchste Interesse in Anspruch <lb n="ple_208.034"/> nehmen. In der Poesie dagegen wird eine solche, wenn sie überhaupt möglich <lb n="ple_208.035"/> ist, niemals dem Dichter oder seinen Hörern genügen; er wird daher <lb n="ple_208.036"/> stets danach streben, dem Wiedergegebenen ideelle Bedeutsamkeit, typischen <lb n="ple_208.037"/> Wert zu verleihen. Das erreicht der Idealist, indem er, wie es Goethe und <lb n="ple_208.038"/> Schiller gern ausdrückten, statt der äußeren Wirklichkeit eine „höhere Wahrheit“ <lb n="ple_208.039"/> darstellt und in der Mannigfaltigkeit der Erscheinungen die großen <lb n="ple_208.040"/> allgemeinen Gesetze und Züge des Seins zur Anschauung bringt. Der <lb n="ple_208.041"/> „Wirklichkeitsdichter“ jedoch wird mit dem Anspruch auftreten, den Hörer <lb n="ple_208.042"/> darüber zu belehren, wie die Wirklichkeit beschaffen ist, und wenn er sich <lb n="ple_208.043"/> dem inneren, insbesondere dem sittlichen Leben oder den sozialen Erscheinungen </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [208/0222]
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auch immer zugleich einen Ideendichter zu sehen, d. h. zu glauben, daß ple_208.002
er nicht von der lebendigen Anschauung des Wirklichen, sondern von ple_208.003
allgemeinen Gedanken über das Wirkliche ausginge, die er dann lebendig ple_208.004
zu verkörpern suche. In Wahrheit ist bei keinem echten Künstler diese ple_208.005
Gefahr groß, selbst nicht bei so gedankentiefen Dichtern, wie unsere ple_208.006
Klassiker waren. Goethe ist, wie wir gesehen haben, in seinen späteren ple_208.007
Lebensjahren vereinzelt in sie verfallen, Schiller, dem allgemeinen Vorurteile ple_208.008
zum Trotz, fast niemals; nur Max und Thekla bilden eine leicht erkennbare ple_208.009
Ausnahme. Auch Hebbel, der ein Grübler war, von psychologischen ple_208.010
und kulturhistorischen Problemen bewegt und erfüllt, ist doch niemals von ple_208.011
allgemeinen und lehrhaften Gedanken, sondern stets von konkreten Anschauungen ple_208.012
des Lebens und der Geschichte ausgegangen; und ein Werk, ple_208.013
wie Grillparzers Sappho, das einen allgemeinen Gedanken zum deutlichsten ple_208.014
Ausdruck bringt, ist zunächst nichts anderes als die Verkörperung innerer ple_208.015
Erlebnisse des Dichters. Daß solche Erlebnisse und Anschauungen im ple_208.016
Laufe einer Dichtung auch in der Form allgemeiner Gedanken ausgesprochen ple_208.017
werden, liegt nahe. Will man sie dann als Grundgedanken oder Idee ple_208.018
des Werkes bezeichnen, so ist dieser Ausdruck am Ende nicht besser ple_208.019
und nicht schlechter wie viele andere; nur darf er nicht zu der Meinung ple_208.020
verführen, daß der Dichter von einem solchen Gedanken in seiner abstrakten ple_208.021
Form ausgegangen sei oder daß es gar im Wesen seiner Kunstrichtung ple_208.022
liege, von einer solchen auszugehen.
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Dagegen zeigt die Literaturgeschichte umgekehrt die zunächst befremdliche ple_208.024
Tatsache, daß der Naturalismus, auf die Dauer, wenigstens fast stets in ple_208.025
eine ethische oder soziale Tendenz verfällt. Es scheint das ein Widerspruch ple_208.026
und ist doch natürlich genug. Jene gutmütige Verliebtheit in die Dinge, ple_208.027
von der Goethe spricht (vgl. S. 70), der nichts unbedeutend erscheint, ple_208.028
was ist, und der die treue Darstellung der Natur in all ihren Zügen als ple_208.029
Ziel künstlerischen Strebens vorschwebt, kann keine wahre Dichtung, ple_208.030
wenigstens keine der gegenständlichen Gattungen entbehren. Allein die ple_208.031
bloße ideenlose Wiedergabe eines Stücks Wirklichkeit kann wohl in den ple_208.032
bildenden Künsten befriedigen, weil hier die Schwierigkeiten der Technik so ple_208.033
erheblich sind, daß sie unter Umständen das höchste Interesse in Anspruch ple_208.034
nehmen. In der Poesie dagegen wird eine solche, wenn sie überhaupt möglich ple_208.035
ist, niemals dem Dichter oder seinen Hörern genügen; er wird daher ple_208.036
stets danach streben, dem Wiedergegebenen ideelle Bedeutsamkeit, typischen ple_208.037
Wert zu verleihen. Das erreicht der Idealist, indem er, wie es Goethe und ple_208.038
Schiller gern ausdrückten, statt der äußeren Wirklichkeit eine „höhere Wahrheit“ ple_208.039
darstellt und in der Mannigfaltigkeit der Erscheinungen die großen ple_208.040
allgemeinen Gesetze und Züge des Seins zur Anschauung bringt. Der ple_208.041
„Wirklichkeitsdichter“ jedoch wird mit dem Anspruch auftreten, den Hörer ple_208.042
darüber zu belehren, wie die Wirklichkeit beschaffen ist, und wenn er sich ple_208.043
dem inneren, insbesondere dem sittlichen Leben oder den sozialen Erscheinungen
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