Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_209.001 ple_209.007 ple_209.018 18. Naive und sentimentalische Dichtung. Schiller ist es bekanntlich, ple_209.019 ple_209.029 ple_209.036 ple_209.001 ple_209.007 ple_209.018 18. Naive und sentimentalische Dichtung. Schiller ist es bekanntlich, ple_209.019 ple_209.029 ple_209.036 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0223" n="209"/><lb n="ple_209.001"/> des äußeren Lebens zuwendet, so kann es kaum ausbleiben, <lb n="ple_209.002"/> daß sich mit dieser Belehrung ein deutlich hervortretendes Werturteil verbindet, <lb n="ple_209.003"/> daß mithin in die Dichtung eine außerkünstlerische Tendenz eindringt. <lb n="ple_209.004"/> So in Schillers Räubern und Kabale und Liebe, so in Zolas <lb n="ple_209.005"/> Rougon Macquart, so in Gerhart Hauptmanns Webern und in Dostojewskis <lb n="ple_209.006"/> Raskolnikow. —</p> <p><lb n="ple_209.007"/> Mit dem bisher Gesagten dürfte der grundlegende Unterschied des <lb n="ple_209.008"/> naturalistischen und des Idealstils einigermaßen erschöpfend veranschaulicht <lb n="ple_209.009"/> sein. Es berührt sich derselbe nun aber mit einem nicht minder bedeutungsvollen <lb n="ple_209.010"/> Gegensatz, aus dem er in manchen Punkten Erklärung und richtige <lb n="ple_209.011"/> Beleuchtung empfängt: dem Gegensatz zwischen objektiver und subjektiver <lb n="ple_209.012"/> oder, wie es Schiller genannt hat, naiver und sentimentalischer Dichtung. <lb n="ple_209.013"/> Bestimmt jener den Charakter des Stils, die Methode der Darstellung, so <lb n="ple_209.014"/> betrifft dieser die innerliche Auffassung, die Anschauungsweise, mit welcher <lb n="ple_209.015"/> der Dichter seinem Stoff gegenübertritt. Es wird notwendig sein, auch diesen <lb n="ple_209.016"/> Wesensunterschied und seine Konsequenzen einer genaueren Betrachtung <lb n="ple_209.017"/> zu unterziehen.</p> </div> <div n="3"> <head> <lb n="ple_209.018"/> <hi rendition="#b">18. Naive und sentimentalische Dichtung.</hi> </head> <p> Schiller ist es bekanntlich, <lb n="ple_209.019"/> der die Begriffe <hi rendition="#g">naive</hi> und <hi rendition="#g">sentimentalische</hi> Dichtung in die Poetik <lb n="ple_209.020"/> eingeführt, systematisch ausgestaltet und für die literarische Betrachtung <lb n="ple_209.021"/> verwertet hat. Seine gleichnamige Abhandlung in den Horen (1795/96) ist <lb n="ple_209.022"/> bis heute der tiefgreifendste Versuch einer Klassifizierung der Poesie auf <lb n="ple_209.023"/> Grund nicht formaler oder stofflicher Unterschiede, sondern der Verschiedenheit <lb n="ple_209.024"/> der Anschauungsweise der Dichter, ihrer Stellung zur Wirklichkeit. Daher <lb n="ple_209.025"/> darf auch die moderne Poetik nicht an dieser bedeutenden Schrift vorübergehen, <lb n="ple_209.026"/> ohne von ihr zu lernen. Freilich bedürfen ihre Gedankengänge <lb n="ple_209.027"/> in mehr als einer Hinsicht der Klärung und Ergänzung, wenn sie sich <lb n="ple_209.028"/> noch heute als fruchtbar erweisen sollen.</p> <p><lb n="ple_209.029"/> „Der Dichter <hi rendition="#g">ist</hi> entweder Natur oder er wird sie <hi rendition="#g">suchen.</hi> Jenes <lb n="ple_209.030"/> macht den naiven, dieses den sentimentalischen Dichter.“ Das Wesen des <lb n="ple_209.031"/> Einen beruht auf der „möglichst vollständigen Nachahmung des Wirklichen“, <lb n="ple_209.032"/> das des Anderen „auf der Erhebung der Wirklichkeit zum Ideal <lb n="ple_209.033"/> oder, was auf eins hinausläuft, der Darstellung des Ideals“. „Und dies <lb n="ple_209.034"/> sind auch die zwei einzig möglichen Arten, wie sich überhaupt der poetische <lb n="ple_209.035"/> Genius äußern kann.“</p> <p><lb n="ple_209.036"/> Dies der Grundgedanke der Schrift. Er scheint einfach genug, und <lb n="ple_209.037"/> dennoch zeigt sich bald, daß der Begriff, auf dem er beruht und der im <lb n="ple_209.038"/> ganzen Verlaufe der Abhandlung als der herrschende hervortritt, der der <lb n="ple_209.039"/> <hi rendition="#g">Natur,</hi> keineswegs eindeutig klar ist. In den Eingangsworten wird unter <lb n="ple_209.040"/> diesem Ausdruck ganz einfach die leblose und lebendige Welt um uns <lb n="ple_209.041"/> herum „in Pflanzen, Mineralien, Tieren, Landschaften“ verstanden, und diesen <lb n="ple_209.042"/> wird der Mensch angereiht, soweit er „in Kindern, in den Sitten des Landvolks <lb n="ple_209.043"/> und der Urwelt“ zur Erscheinung kommt. Diese Welt wird nun ganz </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [209/0223]
ple_209.001
des äußeren Lebens zuwendet, so kann es kaum ausbleiben, ple_209.002
daß sich mit dieser Belehrung ein deutlich hervortretendes Werturteil verbindet, ple_209.003
daß mithin in die Dichtung eine außerkünstlerische Tendenz eindringt. ple_209.004
So in Schillers Räubern und Kabale und Liebe, so in Zolas ple_209.005
Rougon Macquart, so in Gerhart Hauptmanns Webern und in Dostojewskis ple_209.006
Raskolnikow. —
ple_209.007
Mit dem bisher Gesagten dürfte der grundlegende Unterschied des ple_209.008
naturalistischen und des Idealstils einigermaßen erschöpfend veranschaulicht ple_209.009
sein. Es berührt sich derselbe nun aber mit einem nicht minder bedeutungsvollen ple_209.010
Gegensatz, aus dem er in manchen Punkten Erklärung und richtige ple_209.011
Beleuchtung empfängt: dem Gegensatz zwischen objektiver und subjektiver ple_209.012
oder, wie es Schiller genannt hat, naiver und sentimentalischer Dichtung. ple_209.013
Bestimmt jener den Charakter des Stils, die Methode der Darstellung, so ple_209.014
betrifft dieser die innerliche Auffassung, die Anschauungsweise, mit welcher ple_209.015
der Dichter seinem Stoff gegenübertritt. Es wird notwendig sein, auch diesen ple_209.016
Wesensunterschied und seine Konsequenzen einer genaueren Betrachtung ple_209.017
zu unterziehen.
ple_209.018
18. Naive und sentimentalische Dichtung. Schiller ist es bekanntlich, ple_209.019
der die Begriffe naive und sentimentalische Dichtung in die Poetik ple_209.020
eingeführt, systematisch ausgestaltet und für die literarische Betrachtung ple_209.021
verwertet hat. Seine gleichnamige Abhandlung in den Horen (1795/96) ist ple_209.022
bis heute der tiefgreifendste Versuch einer Klassifizierung der Poesie auf ple_209.023
Grund nicht formaler oder stofflicher Unterschiede, sondern der Verschiedenheit ple_209.024
der Anschauungsweise der Dichter, ihrer Stellung zur Wirklichkeit. Daher ple_209.025
darf auch die moderne Poetik nicht an dieser bedeutenden Schrift vorübergehen, ple_209.026
ohne von ihr zu lernen. Freilich bedürfen ihre Gedankengänge ple_209.027
in mehr als einer Hinsicht der Klärung und Ergänzung, wenn sie sich ple_209.028
noch heute als fruchtbar erweisen sollen.
ple_209.029
„Der Dichter ist entweder Natur oder er wird sie suchen. Jenes ple_209.030
macht den naiven, dieses den sentimentalischen Dichter.“ Das Wesen des ple_209.031
Einen beruht auf der „möglichst vollständigen Nachahmung des Wirklichen“, ple_209.032
das des Anderen „auf der Erhebung der Wirklichkeit zum Ideal ple_209.033
oder, was auf eins hinausläuft, der Darstellung des Ideals“. „Und dies ple_209.034
sind auch die zwei einzig möglichen Arten, wie sich überhaupt der poetische ple_209.035
Genius äußern kann.“
ple_209.036
Dies der Grundgedanke der Schrift. Er scheint einfach genug, und ple_209.037
dennoch zeigt sich bald, daß der Begriff, auf dem er beruht und der im ple_209.038
ganzen Verlaufe der Abhandlung als der herrschende hervortritt, der der ple_209.039
Natur, keineswegs eindeutig klar ist. In den Eingangsworten wird unter ple_209.040
diesem Ausdruck ganz einfach die leblose und lebendige Welt um uns ple_209.041
herum „in Pflanzen, Mineralien, Tieren, Landschaften“ verstanden, und diesen ple_209.042
wird der Mensch angereiht, soweit er „in Kindern, in den Sitten des Landvolks ple_209.043
und der Urwelt“ zur Erscheinung kommt. Diese Welt wird nun ganz
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |