Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_210.001 ple_210.007 ple_210.034 ple_210.001 ple_210.007 ple_210.034 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0224" n="210"/><lb n="ple_210.001"/> im Goetheschen Sinn als einheitliche, organische und harmonische Schöpfung <lb n="ple_210.002"/> betrachtet, deren klare und schöne Gesetzmäßigkeit in jedem ihrer <lb n="ple_210.003"/> Teile, auch dem kleinen und kleinsten, zum Ausdruck kommt. „Wir lieben <lb n="ple_210.004"/> in ihnen das still schaffende Leben, das ruhige Wirken aus sich selbst, <lb n="ple_210.005"/> das Dasein nach eigenen Gesetzen, die innere Notwendigkeit, die ewige <lb n="ple_210.006"/> Einheit mit sich selbst.“</p> <p><lb n="ple_210.007"/> Nun aber mischt sich in diesen Begriff ein Element anderen und <lb n="ple_210.008"/> zwar moralischen Inhalts. Die Natur ist nicht an sich naiv, sondern sie <lb n="ple_210.009"/> wird es erst durch unsere Betrachtung, und unser Wohlgefallen an ihr <lb n="ple_210.010"/> ist „kein ästhetisches, sondern ein moralisches“. „Zum Naiven wird erfordert, <lb n="ple_210.011"/> daß die Natur über die Kunst den Sieg davontrage.“ Die Vollkommenheit <lb n="ple_210.012"/> der Natur wird zum Spiegelbild für den fortgeschrittenen <lb n="ple_210.013"/> Menschen, der sich von ihr entfernt hat, ein Spiegelbild, das ihm seine <lb n="ple_210.014"/> Schwächen und Gebrechen zeigt und ihn die Harmonie, die ihm selbst fehlt, <lb n="ple_210.015"/> schmerzlich vermissen lehrt. Die Natur wird zum Ideal und als solches der <lb n="ple_210.016"/> Wirklichkeit nicht gleichgestellt, sondern entgegengesetzt. „Von der wirklichen <lb n="ple_210.017"/> Natur“, sagt Schiller, „kann die wahre Natur, die das Subjekt <lb n="ple_210.018"/> naiver Dichtungen ist, nicht sorgfältig genug unterschieden werden.“ „Der <lb n="ple_210.019"/> Dichter sucht die Natur, aber als Idee und in einer Vollkommenheit, in der <lb n="ple_210.020"/> sie nie existiert hat.“ Die Begriffe <hi rendition="#g">Natur</hi> und <hi rendition="#g">Ideal</hi> fallen für ihn somit <lb n="ple_210.021"/> im wesentlichen zusammen, und daher ist im Fortgang der Abhandlung <lb n="ple_210.022"/> z. B. die Sehnsucht nach der verlorenen Natur ganz gleichbedeutend mit <lb n="ple_210.023"/> der nach dem Ideal. Es ist also ein moralischer Begriff, den der <lb n="ple_210.024"/> Dichter in die künstlerische Betrachtung hineinträgt, und er bezeichnet im <lb n="ple_210.025"/> wesentlichen nichts anderes als die geistige und sittliche Harmonie des <lb n="ple_210.026"/> Menschen, den Inbegriff der Humanität, wie ihn das klassische Zeitalter <lb n="ple_210.027"/> faßte. „Die Natur macht den Menschen mit sich eins, die Kunst trennt <lb n="ple_210.028"/> und entzweit ihn, durch das Ideal kehrt er zur Einheit zurück.“ An diesem <lb n="ple_210.029"/> moralischen Ideal mißt der sentimentalische Dichter die Wirklichkeit und <lb n="ple_210.030"/> findet sie unzulänglich. Die verlorene Harmonie bildet den eigentlichen <lb n="ple_210.031"/> Inhalt seiner Dichtung, — verloren, denn sie hat einst bestanden, sie war <lb n="ple_210.032"/> einst eine Tatsache des Lebens, nunmehr aber ist sie bloß ein Gedanke, <lb n="ple_210.033"/> der erst realisiert werden soll.</p> <p><lb n="ple_210.034"/> Diese Begriffsgebilde führen uns unmittelbar auf die Elemente, durch <lb n="ple_210.035"/> die Schillers Weltanschauung im allgemeinen bestimmt ist. Sie wären nicht <lb n="ple_210.036"/> zu verstehen, wenn wir nicht wüßten, daß Rousseaus Welt- und Naturansicht <lb n="ple_210.037"/> es ist, die auf Schillers Denkweise entscheidend eingewirkt hat; <lb n="ple_210.038"/> sie ist hier zusammen mit den Grundzügen Kantscher Ethik zu einem <lb n="ple_210.039"/> eigenartigen Lehrgebäude gestaltet, das den Bedürfnissen des Dichterphilosophen, <lb n="ple_210.040"/> seine Kunst auf dem Grunde einer zugleich ethischen und <lb n="ple_210.041"/> ästhetischen Weltanschauung zu verstehen und zu würdigen, entspricht. <lb n="ple_210.042"/> Was wir im zweiten Abschnitt dieses Buches (S. 8 ff.) über den Charakter <lb n="ple_210.043"/> der klassischen Ästhetik im allgemeinen erkannt haben, das tritt uns </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [210/0224]
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im Goetheschen Sinn als einheitliche, organische und harmonische Schöpfung ple_210.002
betrachtet, deren klare und schöne Gesetzmäßigkeit in jedem ihrer ple_210.003
Teile, auch dem kleinen und kleinsten, zum Ausdruck kommt. „Wir lieben ple_210.004
in ihnen das still schaffende Leben, das ruhige Wirken aus sich selbst, ple_210.005
das Dasein nach eigenen Gesetzen, die innere Notwendigkeit, die ewige ple_210.006
Einheit mit sich selbst.“
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Nun aber mischt sich in diesen Begriff ein Element anderen und ple_210.008
zwar moralischen Inhalts. Die Natur ist nicht an sich naiv, sondern sie ple_210.009
wird es erst durch unsere Betrachtung, und unser Wohlgefallen an ihr ple_210.010
ist „kein ästhetisches, sondern ein moralisches“. „Zum Naiven wird erfordert, ple_210.011
daß die Natur über die Kunst den Sieg davontrage.“ Die Vollkommenheit ple_210.012
der Natur wird zum Spiegelbild für den fortgeschrittenen ple_210.013
Menschen, der sich von ihr entfernt hat, ein Spiegelbild, das ihm seine ple_210.014
Schwächen und Gebrechen zeigt und ihn die Harmonie, die ihm selbst fehlt, ple_210.015
schmerzlich vermissen lehrt. Die Natur wird zum Ideal und als solches der ple_210.016
Wirklichkeit nicht gleichgestellt, sondern entgegengesetzt. „Von der wirklichen ple_210.017
Natur“, sagt Schiller, „kann die wahre Natur, die das Subjekt ple_210.018
naiver Dichtungen ist, nicht sorgfältig genug unterschieden werden.“ „Der ple_210.019
Dichter sucht die Natur, aber als Idee und in einer Vollkommenheit, in der ple_210.020
sie nie existiert hat.“ Die Begriffe Natur und Ideal fallen für ihn somit ple_210.021
im wesentlichen zusammen, und daher ist im Fortgang der Abhandlung ple_210.022
z. B. die Sehnsucht nach der verlorenen Natur ganz gleichbedeutend mit ple_210.023
der nach dem Ideal. Es ist also ein moralischer Begriff, den der ple_210.024
Dichter in die künstlerische Betrachtung hineinträgt, und er bezeichnet im ple_210.025
wesentlichen nichts anderes als die geistige und sittliche Harmonie des ple_210.026
Menschen, den Inbegriff der Humanität, wie ihn das klassische Zeitalter ple_210.027
faßte. „Die Natur macht den Menschen mit sich eins, die Kunst trennt ple_210.028
und entzweit ihn, durch das Ideal kehrt er zur Einheit zurück.“ An diesem ple_210.029
moralischen Ideal mißt der sentimentalische Dichter die Wirklichkeit und ple_210.030
findet sie unzulänglich. Die verlorene Harmonie bildet den eigentlichen ple_210.031
Inhalt seiner Dichtung, — verloren, denn sie hat einst bestanden, sie war ple_210.032
einst eine Tatsache des Lebens, nunmehr aber ist sie bloß ein Gedanke, ple_210.033
der erst realisiert werden soll.
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Diese Begriffsgebilde führen uns unmittelbar auf die Elemente, durch ple_210.035
die Schillers Weltanschauung im allgemeinen bestimmt ist. Sie wären nicht ple_210.036
zu verstehen, wenn wir nicht wüßten, daß Rousseaus Welt- und Naturansicht ple_210.037
es ist, die auf Schillers Denkweise entscheidend eingewirkt hat; ple_210.038
sie ist hier zusammen mit den Grundzügen Kantscher Ethik zu einem ple_210.039
eigenartigen Lehrgebäude gestaltet, das den Bedürfnissen des Dichterphilosophen, ple_210.040
seine Kunst auf dem Grunde einer zugleich ethischen und ple_210.041
ästhetischen Weltanschauung zu verstehen und zu würdigen, entspricht. ple_210.042
Was wir im zweiten Abschnitt dieses Buches (S. 8 ff.) über den Charakter ple_210.043
der klassischen Ästhetik im allgemeinen erkannt haben, das tritt uns
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