Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_232.001 ple_232.004 ple_232.020 ple_232.001 ple_232.004 ple_232.020 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0246" n="232"/><lb n="ple_232.001"/> gezeigt hat (siehe oben S. 147), das gilt auch von der humoristischen Darstellung <lb n="ple_232.002"/> im besonderen: das persönliche Hervortreten des Dichters ist stets <lb n="ple_232.003"/> eine Schwäche und stört, ja zerstört die künstlerische Wirkung.</p> <p><lb n="ple_232.004"/> Noch entschiedener als der Humorist ist der Satiriker genötigt, wenn <lb n="ple_232.005"/> er wirklich Dichter sein und nicht zum bloßen Tendenzschriftsteller herabsinken <lb n="ple_232.006"/> will, auf direkte Belehrung oder Bußpredigt zu verzichten. Er muß <lb n="ple_232.007"/> uns erleben lassen, was er uns lehren will. Seine Menschen müssen sich <lb n="ple_232.008"/> vor unseren Augen entfalten, sich ganz naiv nach ihrer Eigenart geben: <lb n="ple_232.009"/> hierdurch werden wir in den Stand gesetzt, ja genötigt, sie zu durchschauen <lb n="ple_232.010"/> und den Widerspruch zwischen Schein und Wesen, zwischen äußerer Geltung <lb n="ple_232.011"/> und innerem Wert mit eigenen Augen zu sehen. Das Wort <hi rendition="#g">Ironie</hi> <lb n="ple_232.012"/> bedeutet bekanntlich Verstellung. Die Alten wandten es auf Sokrates an, <lb n="ple_232.013"/> weil er in seinen Unterredungen die Jünglinge und Männer, die er belehren <lb n="ple_232.014"/> wollte, scheinbar als die Wissenden behandelte, bei denen er, der <lb n="ple_232.015"/> Unwissende, sich Rats zu erholen gedächte, — um ihnen eben hierdurch <lb n="ple_232.016"/> ihre Unwissenheit anschaulich zu machen. Ein solcher Ironiker ist jeder <lb n="ple_232.017"/> echte satirische Dichter: er behandelt die Menschen ihren eigenen Ansprüchen <lb n="ple_232.018"/> gemäß als bedeutend und wertvoll, um eben hierdurch die Hohlheit <lb n="ple_232.019"/> dieser Ansprüche zu zeigen.</p> <p><lb n="ple_232.020"/> Mit diesem Verfahren also beabsichtigt der Satiriker uns entweder zu <lb n="ple_232.021"/> erheitern oder in Entrüstung zu versetzen. Schiller hat, wie wir oben gesehen <lb n="ple_232.022"/> haben, in der Abhandlung über naive und sentimentalische Dichtung <lb n="ple_232.023"/> zuerst auf diesen Unterschied hingewiesen; er führt ihn darauf zurück, daß <lb n="ple_232.024"/> die scherzhafte Satire intellektuelle, die pathetische aber sittliche Gebrechen <lb n="ple_232.025"/> und Mängel geißele. Die erstere seien wir allzeit geneigt, scherzhaft zu <lb n="ple_232.026"/> nehmen; die letzteren seien niemals Gegenstände der Belustigung, sondern <lb n="ple_232.027"/> immer nur der Abneigung, ja, wenn sie sich steigern, der Empörung. <lb n="ple_232.028"/> Dieser geistvollen Aufstellung steht die Tatsache entgegen, daß der gleiche <lb n="ple_232.029"/> Gegenstand gar nicht selten in verschiedenen Bearbeitungen sowohl der <lb n="ple_232.030"/> ernsthaften als auch der scherzhaften Satire zugrunde liegen kann, wie <lb n="ple_232.031"/> etwa in Schillers eigener Dichtung der Fanatismus des zelotischen Pfaffen <lb n="ple_232.032"/> beim Pater in den Räubern Empörung erregt, beim Kapuziner in Wallensteins <lb n="ple_232.033"/> Lager aber komisch wirkt. Der Hochmut des reichen Strebers, ja sogar die <lb n="ple_232.034"/> übergroße Zuneigung der jungverheirateten Frau zu ihrer Familie, beides <lb n="ple_232.035"/> alte und oft rein komisch verwandte Motive, werden in Björnsons <hi rendition="#g">Fallissement</hi> <lb n="ple_232.036"/> und seinen <hi rendition="#g">Neuvermählten</hi> sehr ernsthaft behandelt. Es hängt <lb n="ple_232.037"/> also offenbar der Charakter der Satire nicht sowohl vom Stoff als von der <lb n="ple_232.038"/> Auffassung und Behandlung des Dichters ab. Und doch hat Schiller auch <lb n="ple_232.039"/> hier nicht ganz unrecht. Nahezu jedes moralische Gebrechen nämlich, <lb n="ple_232.040"/> besonders aber jeder Mißstand des gesellschaftlichen und des öffentlichen <lb n="ple_232.041"/> Lebens, läßt sich nicht nur von der sittlichen, sondern auch von der intellektuellen <lb n="ple_232.042"/> Seite auffassen: der abgeklärten Lebensweisheit erscheint der <lb n="ple_232.043"/> Lasterhafte einfach als Tor. Diese Auffassung nun ist es, welche der </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [232/0246]
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gezeigt hat (siehe oben S. 147), das gilt auch von der humoristischen Darstellung ple_232.002
im besonderen: das persönliche Hervortreten des Dichters ist stets ple_232.003
eine Schwäche und stört, ja zerstört die künstlerische Wirkung.
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Noch entschiedener als der Humorist ist der Satiriker genötigt, wenn ple_232.005
er wirklich Dichter sein und nicht zum bloßen Tendenzschriftsteller herabsinken ple_232.006
will, auf direkte Belehrung oder Bußpredigt zu verzichten. Er muß ple_232.007
uns erleben lassen, was er uns lehren will. Seine Menschen müssen sich ple_232.008
vor unseren Augen entfalten, sich ganz naiv nach ihrer Eigenart geben: ple_232.009
hierdurch werden wir in den Stand gesetzt, ja genötigt, sie zu durchschauen ple_232.010
und den Widerspruch zwischen Schein und Wesen, zwischen äußerer Geltung ple_232.011
und innerem Wert mit eigenen Augen zu sehen. Das Wort Ironie ple_232.012
bedeutet bekanntlich Verstellung. Die Alten wandten es auf Sokrates an, ple_232.013
weil er in seinen Unterredungen die Jünglinge und Männer, die er belehren ple_232.014
wollte, scheinbar als die Wissenden behandelte, bei denen er, der ple_232.015
Unwissende, sich Rats zu erholen gedächte, — um ihnen eben hierdurch ple_232.016
ihre Unwissenheit anschaulich zu machen. Ein solcher Ironiker ist jeder ple_232.017
echte satirische Dichter: er behandelt die Menschen ihren eigenen Ansprüchen ple_232.018
gemäß als bedeutend und wertvoll, um eben hierdurch die Hohlheit ple_232.019
dieser Ansprüche zu zeigen.
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Mit diesem Verfahren also beabsichtigt der Satiriker uns entweder zu ple_232.021
erheitern oder in Entrüstung zu versetzen. Schiller hat, wie wir oben gesehen ple_232.022
haben, in der Abhandlung über naive und sentimentalische Dichtung ple_232.023
zuerst auf diesen Unterschied hingewiesen; er führt ihn darauf zurück, daß ple_232.024
die scherzhafte Satire intellektuelle, die pathetische aber sittliche Gebrechen ple_232.025
und Mängel geißele. Die erstere seien wir allzeit geneigt, scherzhaft zu ple_232.026
nehmen; die letzteren seien niemals Gegenstände der Belustigung, sondern ple_232.027
immer nur der Abneigung, ja, wenn sie sich steigern, der Empörung. ple_232.028
Dieser geistvollen Aufstellung steht die Tatsache entgegen, daß der gleiche ple_232.029
Gegenstand gar nicht selten in verschiedenen Bearbeitungen sowohl der ple_232.030
ernsthaften als auch der scherzhaften Satire zugrunde liegen kann, wie ple_232.031
etwa in Schillers eigener Dichtung der Fanatismus des zelotischen Pfaffen ple_232.032
beim Pater in den Räubern Empörung erregt, beim Kapuziner in Wallensteins ple_232.033
Lager aber komisch wirkt. Der Hochmut des reichen Strebers, ja sogar die ple_232.034
übergroße Zuneigung der jungverheirateten Frau zu ihrer Familie, beides ple_232.035
alte und oft rein komisch verwandte Motive, werden in Björnsons Fallissement ple_232.036
und seinen Neuvermählten sehr ernsthaft behandelt. Es hängt ple_232.037
also offenbar der Charakter der Satire nicht sowohl vom Stoff als von der ple_232.038
Auffassung und Behandlung des Dichters ab. Und doch hat Schiller auch ple_232.039
hier nicht ganz unrecht. Nahezu jedes moralische Gebrechen nämlich, ple_232.040
besonders aber jeder Mißstand des gesellschaftlichen und des öffentlichen ple_232.041
Lebens, läßt sich nicht nur von der sittlichen, sondern auch von der intellektuellen ple_232.042
Seite auffassen: der abgeklärten Lebensweisheit erscheint der ple_232.043
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