Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_235.001 ple_235.003 ple_235.001 ple_235.003 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0249" n="235"/><lb n="ple_235.001"/> der „ein Herz, wie Gott es ihm gegeben, von Kultur noch frei, im Busen <lb n="ple_235.002"/> fühlte“.</p> <p><lb n="ple_235.003"/> Diese Verurteilung der Zivilisation tritt selten oder niemals ohne bestimmte <lb n="ple_235.004"/> Beziehung zu den gesellschaftlichen Zuständen und Bildungsformen <lb n="ple_235.005"/> des Zeitalters auf, in welchem der Dichter lebt. Noch einen Schritt weiter, <lb n="ple_235.006"/> und wir haben die eigentliche <hi rendition="#g">Zeitsatire</hi> vor uns, der es nicht sowohl <lb n="ple_235.007"/> darauf ankommt, allgemeine moralische Urteile zu fällen, als die bestimmten <lb n="ple_235.008"/> Gebrechen der Zeit und der Gesellschaft, welcher der Dichter angehört, <lb n="ple_235.009"/> bloßzustellen und zu geißeln. Dies ist bei weitem die häufigste Art der <lb n="ple_235.010"/> Satire überhaupt. Zur Kunstform entwickelt erscheint sie begreiflicherweise <lb n="ple_235.011"/> besonders in Zeiten des beginnenden oder fortschreitenden Verfalls einer <lb n="ple_235.012"/> hohen Kultur. So trat im Altertum Aristophanes auf, als die nationale <lb n="ple_235.013"/> hellenische Entwicklung eben ihren Höhepunkt überschritten hatte; so die <lb n="ple_235.014"/> großen römischen Satiriker Persius, Juvenal und Martial im ersten Jahrhundert <lb n="ple_235.015"/> der Kaiserzeit. Auch in Deutschland bezeichnen Logau und Grimmelshausen <lb n="ple_235.016"/> den Niedergang des nationalen Lebens. Im großen Stile freilich entfaltet <lb n="ple_235.017"/> sich die moderne Zeitsatire erst im 18. Jahrhundert unter dem Einfluß der <lb n="ple_235.018"/> Aufklärung, zunächst und am schärfsten bei den Franzosen, wo Montesquieus <lb n="ple_235.019"/> Lettres Persannes und besonders Voltaires Schriften, endlich Beaumarchais' <lb n="ple_235.020"/> Figaro Muster der Gattung wurden. Sie zeigen, wie der Satiriker, ohne <lb n="ple_235.021"/> die Grenzen des scherzhaften Spiels zu überschreiten, dem bedeutendsten, <lb n="ple_235.022"/> ja furchtbarsten Ernst Ausdruck geben kann. Die Deutschen besitzen <lb n="ple_235.023"/> weniger Veranlagung zu dieser Mischung von bitterem Ernst und leichtem <lb n="ple_235.024"/> Spott; bei uns war es die pathetische Satire, in welcher die Verurteilung <lb n="ple_235.025"/> der Zeit ihren Ausdruck fand. In den Dichtungen der Sturm- und Drangperiode, <lb n="ple_235.026"/> am kraftvollsten und leidenschaftlichsten in Schillers Jugenddramen, <lb n="ple_235.027"/> tritt der Protest gegen den unnatürlichen Zustand des verderbten Staatswesens <lb n="ple_235.028"/> und der geknechteten Gesellschaft hervor. Im 19. Jahrhundert ist <lb n="ple_235.029"/> es besonders das junge Deutschland und hier wiederum Börne und Heine, <lb n="ple_235.030"/> welche die politische und soziale Satire in den Mittelpunkt des literarischen <lb n="ple_235.031"/> Interesses rücken. Heines Wintermärchen und viele seiner kleineren Gedichte <lb n="ple_235.032"/> schlagen eine ganz neue Tonart an, welche die schwanke Leiter <lb n="ple_235.033"/> der Gefühle von pathetischem Ernst bis zum skrupellosen Spott hinabführt. <lb n="ple_235.034"/> Eine Reihe verwandter, wenn auch schwächerer Erscheinungen bezeugen, <lb n="ple_235.035"/> wie tief aus den Zuständen und den Bedürfnissen der Zeit heraus <lb n="ple_235.036"/> diese Stimmungen erwachsen waren. Die satirische Zeitschilderung ernsthaften <lb n="ple_235.037"/> Charakters hat in Gutzkow einen bedeutenden, wenn auch keineswegs <lb n="ple_235.038"/> künstlerisch vollendeten Vertreter gefunden: in seinen beiden großen <lb n="ple_235.039"/> schon früher angeführten Romanen „Die Ritter vom Geist“ und „Der Zauberer <lb n="ple_235.040"/> von Rom“ hat er noch in seinen späteren Jahren alles übertroffen, was das <lb n="ple_235.041"/> junge Deutschland, aus dem er hervorgegangen war, in der gegenständlichen <lb n="ple_235.042"/> Darstellung geleistet hat. Im übrigen hat es uns Deutschen, seitdem <lb n="ple_235.043"/> die Revolution von 1848 mit ihren Nachwehen verklungen ist, an einem </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [235/0249]
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der „ein Herz, wie Gott es ihm gegeben, von Kultur noch frei, im Busen ple_235.002
fühlte“.
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Diese Verurteilung der Zivilisation tritt selten oder niemals ohne bestimmte ple_235.004
Beziehung zu den gesellschaftlichen Zuständen und Bildungsformen ple_235.005
des Zeitalters auf, in welchem der Dichter lebt. Noch einen Schritt weiter, ple_235.006
und wir haben die eigentliche Zeitsatire vor uns, der es nicht sowohl ple_235.007
darauf ankommt, allgemeine moralische Urteile zu fällen, als die bestimmten ple_235.008
Gebrechen der Zeit und der Gesellschaft, welcher der Dichter angehört, ple_235.009
bloßzustellen und zu geißeln. Dies ist bei weitem die häufigste Art der ple_235.010
Satire überhaupt. Zur Kunstform entwickelt erscheint sie begreiflicherweise ple_235.011
besonders in Zeiten des beginnenden oder fortschreitenden Verfalls einer ple_235.012
hohen Kultur. So trat im Altertum Aristophanes auf, als die nationale ple_235.013
hellenische Entwicklung eben ihren Höhepunkt überschritten hatte; so die ple_235.014
großen römischen Satiriker Persius, Juvenal und Martial im ersten Jahrhundert ple_235.015
der Kaiserzeit. Auch in Deutschland bezeichnen Logau und Grimmelshausen ple_235.016
den Niedergang des nationalen Lebens. Im großen Stile freilich entfaltet ple_235.017
sich die moderne Zeitsatire erst im 18. Jahrhundert unter dem Einfluß der ple_235.018
Aufklärung, zunächst und am schärfsten bei den Franzosen, wo Montesquieus ple_235.019
Lettres Persannes und besonders Voltaires Schriften, endlich Beaumarchais' ple_235.020
Figaro Muster der Gattung wurden. Sie zeigen, wie der Satiriker, ohne ple_235.021
die Grenzen des scherzhaften Spiels zu überschreiten, dem bedeutendsten, ple_235.022
ja furchtbarsten Ernst Ausdruck geben kann. Die Deutschen besitzen ple_235.023
weniger Veranlagung zu dieser Mischung von bitterem Ernst und leichtem ple_235.024
Spott; bei uns war es die pathetische Satire, in welcher die Verurteilung ple_235.025
der Zeit ihren Ausdruck fand. In den Dichtungen der Sturm- und Drangperiode, ple_235.026
am kraftvollsten und leidenschaftlichsten in Schillers Jugenddramen, ple_235.027
tritt der Protest gegen den unnatürlichen Zustand des verderbten Staatswesens ple_235.028
und der geknechteten Gesellschaft hervor. Im 19. Jahrhundert ist ple_235.029
es besonders das junge Deutschland und hier wiederum Börne und Heine, ple_235.030
welche die politische und soziale Satire in den Mittelpunkt des literarischen ple_235.031
Interesses rücken. Heines Wintermärchen und viele seiner kleineren Gedichte ple_235.032
schlagen eine ganz neue Tonart an, welche die schwanke Leiter ple_235.033
der Gefühle von pathetischem Ernst bis zum skrupellosen Spott hinabführt. ple_235.034
Eine Reihe verwandter, wenn auch schwächerer Erscheinungen bezeugen, ple_235.035
wie tief aus den Zuständen und den Bedürfnissen der Zeit heraus ple_235.036
diese Stimmungen erwachsen waren. Die satirische Zeitschilderung ernsthaften ple_235.037
Charakters hat in Gutzkow einen bedeutenden, wenn auch keineswegs ple_235.038
künstlerisch vollendeten Vertreter gefunden: in seinen beiden großen ple_235.039
schon früher angeführten Romanen „Die Ritter vom Geist“ und „Der Zauberer ple_235.040
von Rom“ hat er noch in seinen späteren Jahren alles übertroffen, was das ple_235.041
junge Deutschland, aus dem er hervorgegangen war, in der gegenständlichen ple_235.042
Darstellung geleistet hat. Im übrigen hat es uns Deutschen, seitdem ple_235.043
die Revolution von 1848 mit ihren Nachwehen verklungen ist, an einem
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