Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_236.001 ple_236.028 ple_236.001 ple_236.028 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0250" n="236"/><lb n="ple_236.001"/> Satiriker großen Stils gefehlt. Nicht als ob die Zustände einem solchen <lb n="ple_236.002"/> keinen Stoff gäben, sondern vermutlich nur, weil der Zufall der Persönlichkeit, <lb n="ple_236.003"/> der doch auch in der Literaturgeschichte waltet, ihn uns versagt <lb n="ple_236.004"/> hat. Die kleineren satirischen Talente unserer Zeit zersplittern ihre Kraft <lb n="ple_236.005"/> in den Witzblättern oder streben nach Augenblickserfolgen auf dem Theater, <lb n="ple_236.006"/> wobei denn die Polizeigewalt einerseits, der Geschmack des Publikums andrerseits <lb n="ple_236.007"/> der Gattung von vornherein bescheidene Grenzen setzen. Von der <lb n="ple_236.008"/> Unerbittlichkeit, die dem echten Satiriker eignet, zeigt sich auf der heutigen <lb n="ple_236.009"/> deutschen Bühne wie in der Literatur kaum hier und da ein Ansatz: am <lb n="ple_236.010"/> ehesten noch bei Gerhart Hauptmann, in dessen Webern und Biberpelz <lb n="ple_236.011"/> die pathetische und die scherzhafte Satire zu wirksamem Ausdruck kommt. <lb n="ple_236.012"/> Ganz anders steht es in den übrigen Ländern: in Rußland, wo die unerträglichen <lb n="ple_236.013"/> Zustände die Satire der Entrüstung gleichsam mit Naturgewalt <lb n="ple_236.014"/> hervorgetrieben haben — man braucht nur an Namen wie Gogol, Turgeniew, <lb n="ple_236.015"/> Dostojewski und Tolstoi zu erinnern —, in Skandinavien, wo zwei kraftvolle <lb n="ple_236.016"/> Völker, erst vor kurzem zu politischem und sozialem Bewußtsein gelangt, <lb n="ple_236.017"/> einen natürlichen Ausdruck dafür in der Dichtung Ibsens, Björnsons, Kjiellands <lb n="ple_236.018"/> finden, vor allem aber wiederum bei den Franzosen, die zweifellos <lb n="ple_236.019"/> für die Satire besonders veranlagt sind. Dafür legen Bücher wie Daudets <lb n="ple_236.020"/> Numa Roumestan oder Guy de Maupassants Bel ami glänzende Zeugnisse <lb n="ple_236.021"/> ab; und in Zolas großen Sittenromanen tritt die satirische Schilderung der <lb n="ple_236.022"/> Zeit mit einem so furchtbaren Ernst und einer solchen Größe der Anschauung <lb n="ple_236.023"/> auf, daß man trotz ihrer dichterischen Mängel, über die wir uns <lb n="ple_236.024"/> bereits oben (S. 161 f.) klar geworden sind, manche Teile dieser Schöpfungen <lb n="ple_236.025"/> unmittelbar neben Juvenals Verse stellen darf. Hier herrscht durchaus jene <lb n="ple_236.026"/> Unerbittlichkeit, die wir in den modernen deutschen Schöpfungen vermissen <lb n="ple_236.027"/> und die den großen Satiriker kennzeichnet.</p> <p><lb n="ple_236.028"/> Die Verspottung einzelner <hi rendition="#g">Stände</hi> braucht an sich keine sittliche Bedeutung <lb n="ple_236.029"/> haben, sie kann sich in den Grenzen der reinen Komik halten, <lb n="ple_236.030"/> wie die gutmütige Heiterkeit, mit der Hans Sachs Bauern und Landsknechte, <lb n="ple_236.031"/> Handwerker und Wirte durchhechelt, die Belustigung, die der prahlende <lb n="ple_236.032"/> Soldat in den verschiedensten Zeiten und Ländern erregt hat, oder das harmlose <lb n="ple_236.033"/> Vergnügen, das Hagedorns und Lessings komische Erzählungen mit <lb n="ple_236.034"/> der Verspottung der Ärzte, der Gelehrten und der Frauen erregten. Solche <lb n="ple_236.035"/> Scherze sind keine echten Satiren, sondern nur ein leichtes Spiel mit überkommenen <lb n="ple_236.036"/> Vorurteilen und Standestypen. Erst dann empfängt dieses Spiel <lb n="ple_236.037"/> Lebensblut und Bedeutsamkeit, wenn die Schwächen der einzelnen Stände <lb n="ple_236.038"/> als sittliche Mängel der <hi rendition="#g">Zeit</hi> hervortreten, wenn also auch die Standesverspottung <lb n="ple_236.039"/> Zeitsatire wird. Erst durch eine solche Beziehung wird aus <lb n="ple_236.040"/> der komischen Figur des Lessingschen Patriarchen oder dem Grafen in <lb n="ple_236.041"/> Beaumarchais' Figaro eine satirische Schöpfung. Und leicht verwandelt sich <lb n="ple_236.042"/> dann die scherzhafte Satire in düsteren oder pathetischen Ernst. In Zolas <lb n="ple_236.043"/> eben genannten Romanen, in den Dichtungen der neueren Norweger ist </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [236/0250]
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Satiriker großen Stils gefehlt. Nicht als ob die Zustände einem solchen ple_236.002
keinen Stoff gäben, sondern vermutlich nur, weil der Zufall der Persönlichkeit, ple_236.003
der doch auch in der Literaturgeschichte waltet, ihn uns versagt ple_236.004
hat. Die kleineren satirischen Talente unserer Zeit zersplittern ihre Kraft ple_236.005
in den Witzblättern oder streben nach Augenblickserfolgen auf dem Theater, ple_236.006
wobei denn die Polizeigewalt einerseits, der Geschmack des Publikums andrerseits ple_236.007
der Gattung von vornherein bescheidene Grenzen setzen. Von der ple_236.008
Unerbittlichkeit, die dem echten Satiriker eignet, zeigt sich auf der heutigen ple_236.009
deutschen Bühne wie in der Literatur kaum hier und da ein Ansatz: am ple_236.010
ehesten noch bei Gerhart Hauptmann, in dessen Webern und Biberpelz ple_236.011
die pathetische und die scherzhafte Satire zu wirksamem Ausdruck kommt. ple_236.012
Ganz anders steht es in den übrigen Ländern: in Rußland, wo die unerträglichen ple_236.013
Zustände die Satire der Entrüstung gleichsam mit Naturgewalt ple_236.014
hervorgetrieben haben — man braucht nur an Namen wie Gogol, Turgeniew, ple_236.015
Dostojewski und Tolstoi zu erinnern —, in Skandinavien, wo zwei kraftvolle ple_236.016
Völker, erst vor kurzem zu politischem und sozialem Bewußtsein gelangt, ple_236.017
einen natürlichen Ausdruck dafür in der Dichtung Ibsens, Björnsons, Kjiellands ple_236.018
finden, vor allem aber wiederum bei den Franzosen, die zweifellos ple_236.019
für die Satire besonders veranlagt sind. Dafür legen Bücher wie Daudets ple_236.020
Numa Roumestan oder Guy de Maupassants Bel ami glänzende Zeugnisse ple_236.021
ab; und in Zolas großen Sittenromanen tritt die satirische Schilderung der ple_236.022
Zeit mit einem so furchtbaren Ernst und einer solchen Größe der Anschauung ple_236.023
auf, daß man trotz ihrer dichterischen Mängel, über die wir uns ple_236.024
bereits oben (S. 161 f.) klar geworden sind, manche Teile dieser Schöpfungen ple_236.025
unmittelbar neben Juvenals Verse stellen darf. Hier herrscht durchaus jene ple_236.026
Unerbittlichkeit, die wir in den modernen deutschen Schöpfungen vermissen ple_236.027
und die den großen Satiriker kennzeichnet.
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Die Verspottung einzelner Stände braucht an sich keine sittliche Bedeutung ple_236.029
haben, sie kann sich in den Grenzen der reinen Komik halten, ple_236.030
wie die gutmütige Heiterkeit, mit der Hans Sachs Bauern und Landsknechte, ple_236.031
Handwerker und Wirte durchhechelt, die Belustigung, die der prahlende ple_236.032
Soldat in den verschiedensten Zeiten und Ländern erregt hat, oder das harmlose ple_236.033
Vergnügen, das Hagedorns und Lessings komische Erzählungen mit ple_236.034
der Verspottung der Ärzte, der Gelehrten und der Frauen erregten. Solche ple_236.035
Scherze sind keine echten Satiren, sondern nur ein leichtes Spiel mit überkommenen ple_236.036
Vorurteilen und Standestypen. Erst dann empfängt dieses Spiel ple_236.037
Lebensblut und Bedeutsamkeit, wenn die Schwächen der einzelnen Stände ple_236.038
als sittliche Mängel der Zeit hervortreten, wenn also auch die Standesverspottung ple_236.039
Zeitsatire wird. Erst durch eine solche Beziehung wird aus ple_236.040
der komischen Figur des Lessingschen Patriarchen oder dem Grafen in ple_236.041
Beaumarchais' Figaro eine satirische Schöpfung. Und leicht verwandelt sich ple_236.042
dann die scherzhafte Satire in düsteren oder pathetischen Ernst. In Zolas ple_236.043
eben genannten Romanen, in den Dichtungen der neueren Norweger ist
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