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Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.

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in seinen Lustspielen, auch Brentano im Märchen vom Schulmeister Klopfstock ple_238.002
und gelegentlich auch E. Th. A. Hoffmann. Aber viel schneidender ple_238.003
und vernichtender war der Kampf, den die folgende Generation gegen die ple_238.004
Romantik selbst und ihre Ausläufer führte; das zeigen Platens satirische ple_238.005
Komödien, Immermanns Münchhausen und vor allem Heines Atta Troll, ple_238.006
dieses Meisterwerk seiner Gattung, das in seiner Mischung von Scherz und ple_238.007
Ernst, Unart und Grazie, ätzender Bosheit und überlegener Heiterkeit von ple_238.008
allen modernen Satiren dem Aristophanes am nächsten kommt.

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"Oft adelt er was uns gemein erscheint, ple_238.010
Und das Geschätzte wird vor ihm zu Nichts."

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So charakterisiert Goethe die Art, wie der Dichter Menschen und Leben ple_238.012
wertet. Wenn in dem zweiten dieser Verse das Wesen der Satire zum ple_238.013
Ausdruck kommt, so kennzeichnet der erste die Natur des Humors.

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Das immer wiederkehrende Thema aller Humoristen ist der Wert des ple_238.015
scheinbar Wertlosen, die Bedeutsamkeit dessen, was die Menschen verachten ple_238.016
und zurücksetzen. Das Leben und die Gesinnung der Armen und ple_238.017
Niedrigen birgt Schätze, die der Dichter hebt; der Häßliche und Absonderliche, ple_238.018
über den die Menge lacht, trägt in sich Reichtümer des Geistes und ple_238.019
des Gemüts. Ja, der Ausgestoßene, der Verbrecher birgt unter abstoßender ple_238.020
Hülle menschliche, bisweilen edle Charakterzüge. Überall also ist es der ple_238.021
Gegensatz zwischen Äußerem und Innerem, zwischen Erscheinung und ple_238.022
Wesen, Schätzung oder vielmehr Unterschätzung und wirklichem Wert. Die ple_238.023
Umkehr des Themas der Satire ist unzähliger Variationen fähig, und in solchen ple_238.024
erscheint sie denn auch in der Dichtung, wenigstens der neueren. Denn die ple_238.025
Antike mit ihrem naiven Wirklichkeitssinn und ihrer Wertschätzung der ple_238.026
Harmonie zwischen Äußerem und Innerem war begreiflicherweise nicht ple_238.027
geneigt, diese Gegensätze hervorzuheben und künstlerisch zu verwerten. ple_238.028
Um so deutlicher treten sie in der Vielspältigkeit und Zerrissenheit des ple_238.029
modernen Lebens hervor, und um so entschiedener hat sich die moderne ple_238.030
Dichtung, die ein Abbild dieses Lebens ist, seiner bemächtigt.

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In dem häßlichen jungen Entlein Andersens, das von jedermann verachtet ple_238.032
und mißhandelt wird, steckt ein stolzer schöner Schwan, der, erwachsen, ple_238.033
zum bewundernden Erstaunen aller seine Schwingen entfaltet. Dieses ple_238.034
Märchen stellt das Grundthema des Humors in typischer Sinnbildlichkeit ple_238.035
dar, und typisch ist auch die Nutzanwendung des Dichters: "Es schadet ple_238.036
nichts, auf einem Hühnerhof geboren zu sein, wenn man nur aus einem ple_238.037
Schwanenei gekrochen ist." -- Das verachtete Krähwinkel, die kleine Stadt ple_238.038
mit der lächerlichen Enge ihrer Straßen und ihres Lebens birgt unter den ple_238.039
Vielen, die in dieser Enge verkümmern, einen wahrhaft großen Menschen, ple_238.040
wie Jean Pauls Siebenkäs, oder doch kluge Köpfe und warme Herzen, ple_238.041
wie in Raabes Horn von Wanza. -- In der engen und niedrigen Dachstubenwohnung ple_238.042
verläuft eine ganze Jugend mit allem Reichtum an Phantasie

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in seinen Lustspielen, auch Brentano im Märchen vom Schulmeister Klopfstock ple_238.002
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Ernst, Unart und Grazie, ätzender Bosheit und überlegener Heiterkeit von ple_238.008
allen modernen Satiren dem Aristophanes am nächsten kommt.

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„Oft adelt er was uns gemein erscheint, ple_238.010
Und das Geschätzte wird vor ihm zu Nichts.“

ple_238.011
So charakterisiert Goethe die Art, wie der Dichter Menschen und Leben ple_238.012
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Ausdruck kommt, so kennzeichnet der erste die Natur des Humors.

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Hülle menschliche, bisweilen edle Charakterzüge. Überall also ist es der ple_238.021
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Antike mit ihrem naiven Wirklichkeitssinn und ihrer Wertschätzung der ple_238.026
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Um so deutlicher treten sie in der Vielspältigkeit und Zerrissenheit des ple_238.029
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In dem häßlichen jungen Entlein Andersens, das von jedermann verachtet ple_238.032
und mißhandelt wird, steckt ein stolzer schöner Schwan, der, erwachsen, ple_238.033
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[238/0252] ple_238.001 in seinen Lustspielen, auch Brentano im Märchen vom Schulmeister Klopfstock ple_238.002 und gelegentlich auch E. Th. A. Hoffmann. Aber viel schneidender ple_238.003 und vernichtender war der Kampf, den die folgende Generation gegen die ple_238.004 Romantik selbst und ihre Ausläufer führte; das zeigen Platens satirische ple_238.005 Komödien, Immermanns Münchhausen und vor allem Heines Atta Troll, ple_238.006 dieses Meisterwerk seiner Gattung, das in seiner Mischung von Scherz und ple_238.007 Ernst, Unart und Grazie, ätzender Bosheit und überlegener Heiterkeit von ple_238.008 allen modernen Satiren dem Aristophanes am nächsten kommt. ple_238.009 „Oft adelt er was uns gemein erscheint, ple_238.010 Und das Geschätzte wird vor ihm zu Nichts.“ ple_238.011 So charakterisiert Goethe die Art, wie der Dichter Menschen und Leben ple_238.012 wertet. Wenn in dem zweiten dieser Verse das Wesen der Satire zum ple_238.013 Ausdruck kommt, so kennzeichnet der erste die Natur des Humors. ple_238.014 Das immer wiederkehrende Thema aller Humoristen ist der Wert des ple_238.015 scheinbar Wertlosen, die Bedeutsamkeit dessen, was die Menschen verachten ple_238.016 und zurücksetzen. Das Leben und die Gesinnung der Armen und ple_238.017 Niedrigen birgt Schätze, die der Dichter hebt; der Häßliche und Absonderliche, ple_238.018 über den die Menge lacht, trägt in sich Reichtümer des Geistes und ple_238.019 des Gemüts. Ja, der Ausgestoßene, der Verbrecher birgt unter abstoßender ple_238.020 Hülle menschliche, bisweilen edle Charakterzüge. Überall also ist es der ple_238.021 Gegensatz zwischen Äußerem und Innerem, zwischen Erscheinung und ple_238.022 Wesen, Schätzung oder vielmehr Unterschätzung und wirklichem Wert. Die ple_238.023 Umkehr des Themas der Satire ist unzähliger Variationen fähig, und in solchen ple_238.024 erscheint sie denn auch in der Dichtung, wenigstens der neueren. Denn die ple_238.025 Antike mit ihrem naiven Wirklichkeitssinn und ihrer Wertschätzung der ple_238.026 Harmonie zwischen Äußerem und Innerem war begreiflicherweise nicht ple_238.027 geneigt, diese Gegensätze hervorzuheben und künstlerisch zu verwerten. ple_238.028 Um so deutlicher treten sie in der Vielspältigkeit und Zerrissenheit des ple_238.029 modernen Lebens hervor, und um so entschiedener hat sich die moderne ple_238.030 Dichtung, die ein Abbild dieses Lebens ist, seiner bemächtigt. ple_238.031 In dem häßlichen jungen Entlein Andersens, das von jedermann verachtet ple_238.032 und mißhandelt wird, steckt ein stolzer schöner Schwan, der, erwachsen, ple_238.033 zum bewundernden Erstaunen aller seine Schwingen entfaltet. Dieses ple_238.034 Märchen stellt das Grundthema des Humors in typischer Sinnbildlichkeit ple_238.035 dar, und typisch ist auch die Nutzanwendung des Dichters: „Es schadet ple_238.036 nichts, auf einem Hühnerhof geboren zu sein, wenn man nur aus einem ple_238.037 Schwanenei gekrochen ist.“ — Das verachtete Krähwinkel, die kleine Stadt ple_238.038 mit der lächerlichen Enge ihrer Straßen und ihres Lebens birgt unter den ple_238.039 Vielen, die in dieser Enge verkümmern, einen wahrhaft großen Menschen, ple_238.040 wie Jean Pauls Siebenkäs, oder doch kluge Köpfe und warme Herzen, ple_238.041 wie in Raabes Horn von Wanza. — In der engen und niedrigen Dachstubenwohnung ple_238.042 verläuft eine ganze Jugend mit allem Reichtum an Phantasie

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Zitationshilfe: Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908, S. 238. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lehmann_poetik_1908/252>, abgerufen am 22.11.2024.