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Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.

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der Humorist leicht Gefahr, einseitig zu werden und zu verflachen. Dann ple_240.002
verliert der scherzhafte Humor seine tiefere Bedeutung und fällt ins rein ple_240.003
Komische, der rührende aber wird rührselig und weichlich. Der erstere ple_240.004
Fehler ist ästhetisch der geringere; denn auch das Scherzhafte ohne Wertbeziehung ple_240.005
kann noch künstlerisch wirken. Freilich ist es vom Übel, ple_240.006
wenn, wie in vielen modernen Lustspielen, der Dichter sein Werk mit ple_240.007
dem Anspruch auf eine tiefere Bedeutsamkeit beginnt, denselben aber ple_240.008
später fallen läßt und einfach zum witzigen Spaßmacher wird. Schlimmer ple_240.009
jedoch ist weichliche Rührseligkeit, denn sie verhindert stets eine künstlerische ple_240.010
Wirkung und stößt ernsthafte und männliche Naturen nicht minder ple_240.011
ab wie feinere, künstlerisch gerichtete Geister. Daher bedarf der Humor, ple_240.012
wenn er größere Dichtungen tragen und sich auf künstlerischer Höhe ple_240.013
halten will, eines Gegengewichts, und dieses findet er in seinem Widerspiel, ple_240.014
der Satire. Sehr richtig bemerkt Baumgart (Handbuch der Poetik, ple_240.015
S. 107/108): "Die satirischen Wirkungen und die humoristischen sind ple_240.016
geeignet, sich wechselweise zu ergänzen, und beide müssen, sobald sie ple_240.017
einseitig auftreten, notwendig vereinzelt bleiben. Die Satire für sich allein ple_240.018
ist auf Tadel und Vorwurf gerichtet und begünstigt die Schärfe und ple_240.019
Schonungslosigkeit des Urteils; der Humor für sich allein ist vom Wertvollen ple_240.020
eingegeben und zur Milde geneigt; er verfällt daher leicht einer ple_240.021
zu großen Weichheit." So stellt Lessing im Nathan den Patriarchen dem ple_240.022
Klosterbruder gegenüber, so Gustav Freytag in Soll und Haben und nach ple_240.023
ihm Raabe im Hungerpastor der inneren Tüchtigkeit eines schwerfälligen ple_240.024
deutschen Jünglings die gewissenlose Gewandtheit des jüdischen Strebers. ple_240.025
In der Tat sind fast alle bedeutenden Humoristen zugleich Satiriker: Jean ple_240.026
Paul und Raabe sowohl wie Thackerey und Dickens. Und Reuter, dessen ple_240.027
satirische Ader bei seiner harmlosen Gutmütigkeit nicht eben entwickelt ple_240.028
war, empfand das wohl selbst gelegentlich als einen Mangel und stellte ple_240.029
deshalb die einzige ernsthafte, ja zum Teil pathetische Satire, die er geschrieben ple_240.030
hat, "Kein Hüsung", über alle seine anderen Dichtungen. Jeder ple_240.031
echte Dichter scheut eben instinktiv die Verweichlichung und Verflachung, ple_240.032
die in dem einseitigen Aufsuchen des Wertvollen, in der ausschließlichen ple_240.033
Schilderung edler oder doch im Kern braver Menschen liegt. Der Satiriker ple_240.034
freilich, besonders der pathetische, will oft gar nicht die Herbheit seiner ple_240.035
Eindrücke mildern; ja er steigert sie bisweilen mit voller Absicht bis zum ple_240.036
Peinlichen. Je entschiedener er nämlich eine außerkünstlerische, praktische ple_240.037
Tendenz verfolgt, desto weniger wird ihm daran gelegen sein, die Unlustempfindungen, ple_240.038
die seine Schilderungen erregen, zu mildern, Gutes und ple_240.039
Schlimmes in einem harmonischen Schlußakkord auszugleichen. Daher die ple_240.040
unkünstlerisch peinliche Herbheit in den meisten großen Romanen Zolas ple_240.041
und in den späteren Dichtungen Tolstois: bei beiden hat mit der Zeit ple_240.042
der Kritiker und der Verkünder sozialer Weisheit den Künstler zurückgedrängt.

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der Humorist leicht Gefahr, einseitig zu werden und zu verflachen. Dann ple_240.002
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Komische, der rührende aber wird rührselig und weichlich. Der erstere ple_240.004
Fehler ist ästhetisch der geringere; denn auch das Scherzhafte ohne Wertbeziehung ple_240.005
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später fallen läßt und einfach zum witzigen Spaßmacher wird. Schlimmer ple_240.009
jedoch ist weichliche Rührseligkeit, denn sie verhindert stets eine künstlerische ple_240.010
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S. 107/108): „Die satirischen Wirkungen und die humoristischen sind ple_240.016
geeignet, sich wechselweise zu ergänzen, und beide müssen, sobald sie ple_240.017
einseitig auftreten, notwendig vereinzelt bleiben. Die Satire für sich allein ple_240.018
ist auf Tadel und Vorwurf gerichtet und begünstigt die Schärfe und ple_240.019
Schonungslosigkeit des Urteils; der Humor für sich allein ist vom Wertvollen ple_240.020
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Klosterbruder gegenüber, so Gustav Freytag in Soll und Haben und nach ple_240.023
ihm Raabe im Hungerpastor der inneren Tüchtigkeit eines schwerfälligen ple_240.024
deutschen Jünglings die gewissenlose Gewandtheit des jüdischen Strebers. ple_240.025
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Paul und Raabe sowohl wie Thackerey und Dickens. Und Reuter, dessen ple_240.027
satirische Ader bei seiner harmlosen Gutmütigkeit nicht eben entwickelt ple_240.028
war, empfand das wohl selbst gelegentlich als einen Mangel und stellte ple_240.029
deshalb die einzige ernsthafte, ja zum Teil pathetische Satire, die er geschrieben ple_240.030
hat, „Kein Hüsung“, über alle seine anderen Dichtungen. Jeder ple_240.031
echte Dichter scheut eben instinktiv die Verweichlichung und Verflachung, ple_240.032
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freilich, besonders der pathetische, will oft gar nicht die Herbheit seiner ple_240.035
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[240/0254] ple_240.001 der Humorist leicht Gefahr, einseitig zu werden und zu verflachen. Dann ple_240.002 verliert der scherzhafte Humor seine tiefere Bedeutung und fällt ins rein ple_240.003 Komische, der rührende aber wird rührselig und weichlich. Der erstere ple_240.004 Fehler ist ästhetisch der geringere; denn auch das Scherzhafte ohne Wertbeziehung ple_240.005 kann noch künstlerisch wirken. Freilich ist es vom Übel, ple_240.006 wenn, wie in vielen modernen Lustspielen, der Dichter sein Werk mit ple_240.007 dem Anspruch auf eine tiefere Bedeutsamkeit beginnt, denselben aber ple_240.008 später fallen läßt und einfach zum witzigen Spaßmacher wird. Schlimmer ple_240.009 jedoch ist weichliche Rührseligkeit, denn sie verhindert stets eine künstlerische ple_240.010 Wirkung und stößt ernsthafte und männliche Naturen nicht minder ple_240.011 ab wie feinere, künstlerisch gerichtete Geister. Daher bedarf der Humor, ple_240.012 wenn er größere Dichtungen tragen und sich auf künstlerischer Höhe ple_240.013 halten will, eines Gegengewichts, und dieses findet er in seinem Widerspiel, ple_240.014 der Satire. Sehr richtig bemerkt Baumgart (Handbuch der Poetik, ple_240.015 S. 107/108): „Die satirischen Wirkungen und die humoristischen sind ple_240.016 geeignet, sich wechselweise zu ergänzen, und beide müssen, sobald sie ple_240.017 einseitig auftreten, notwendig vereinzelt bleiben. Die Satire für sich allein ple_240.018 ist auf Tadel und Vorwurf gerichtet und begünstigt die Schärfe und ple_240.019 Schonungslosigkeit des Urteils; der Humor für sich allein ist vom Wertvollen ple_240.020 eingegeben und zur Milde geneigt; er verfällt daher leicht einer ple_240.021 zu großen Weichheit.“ So stellt Lessing im Nathan den Patriarchen dem ple_240.022 Klosterbruder gegenüber, so Gustav Freytag in Soll und Haben und nach ple_240.023 ihm Raabe im Hungerpastor der inneren Tüchtigkeit eines schwerfälligen ple_240.024 deutschen Jünglings die gewissenlose Gewandtheit des jüdischen Strebers. ple_240.025 In der Tat sind fast alle bedeutenden Humoristen zugleich Satiriker: Jean ple_240.026 Paul und Raabe sowohl wie Thackerey und Dickens. Und Reuter, dessen ple_240.027 satirische Ader bei seiner harmlosen Gutmütigkeit nicht eben entwickelt ple_240.028 war, empfand das wohl selbst gelegentlich als einen Mangel und stellte ple_240.029 deshalb die einzige ernsthafte, ja zum Teil pathetische Satire, die er geschrieben ple_240.030 hat, „Kein Hüsung“, über alle seine anderen Dichtungen. Jeder ple_240.031 echte Dichter scheut eben instinktiv die Verweichlichung und Verflachung, ple_240.032 die in dem einseitigen Aufsuchen des Wertvollen, in der ausschließlichen ple_240.033 Schilderung edler oder doch im Kern braver Menschen liegt. Der Satiriker ple_240.034 freilich, besonders der pathetische, will oft gar nicht die Herbheit seiner ple_240.035 Eindrücke mildern; ja er steigert sie bisweilen mit voller Absicht bis zum ple_240.036 Peinlichen. Je entschiedener er nämlich eine außerkünstlerische, praktische ple_240.037 Tendenz verfolgt, desto weniger wird ihm daran gelegen sein, die Unlustempfindungen, ple_240.038 die seine Schilderungen erregen, zu mildern, Gutes und ple_240.039 Schlimmes in einem harmonischen Schlußakkord auszugleichen. Daher die ple_240.040 unkünstlerisch peinliche Herbheit in den meisten großen Romanen Zolas ple_240.041 und in den späteren Dichtungen Tolstois: bei beiden hat mit der Zeit ple_240.042 der Kritiker und der Verkünder sozialer Weisheit den Künstler zurückgedrängt. ple_240.043

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Zitationshilfe: Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908, S. 240. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lehmann_poetik_1908/254>, abgerufen am 22.11.2024.