Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_240.001 ple_240.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0254" n="240"/><lb n="ple_240.001"/> der Humorist leicht Gefahr, einseitig zu werden und zu verflachen. Dann <lb n="ple_240.002"/> verliert der scherzhafte Humor seine tiefere Bedeutung und fällt ins rein <lb n="ple_240.003"/> Komische, der rührende aber wird rührselig und weichlich. Der erstere <lb n="ple_240.004"/> Fehler ist ästhetisch der geringere; denn auch das Scherzhafte ohne Wertbeziehung <lb n="ple_240.005"/> kann noch künstlerisch wirken. Freilich ist es vom Übel, <lb n="ple_240.006"/> wenn, wie in vielen modernen Lustspielen, der Dichter sein Werk mit <lb n="ple_240.007"/> dem Anspruch auf eine tiefere Bedeutsamkeit beginnt, denselben aber <lb n="ple_240.008"/> später fallen läßt und einfach zum witzigen Spaßmacher wird. Schlimmer <lb n="ple_240.009"/> jedoch ist weichliche Rührseligkeit, denn sie verhindert stets eine künstlerische <lb n="ple_240.010"/> Wirkung und stößt ernsthafte und männliche Naturen nicht minder <lb n="ple_240.011"/> ab wie feinere, künstlerisch gerichtete Geister. Daher bedarf der Humor, <lb n="ple_240.012"/> wenn er größere Dichtungen tragen und sich auf künstlerischer Höhe <lb n="ple_240.013"/> halten will, eines Gegengewichts, und dieses findet er in seinem Widerspiel, <lb n="ple_240.014"/> der Satire. Sehr richtig bemerkt Baumgart (Handbuch der Poetik, <lb n="ple_240.015"/> S. 107/108): „Die satirischen Wirkungen und die humoristischen sind <lb n="ple_240.016"/> geeignet, sich wechselweise zu ergänzen, und beide müssen, sobald sie <lb n="ple_240.017"/> einseitig auftreten, notwendig vereinzelt bleiben. Die Satire für sich allein <lb n="ple_240.018"/> ist auf Tadel und Vorwurf gerichtet und begünstigt die Schärfe und <lb n="ple_240.019"/> Schonungslosigkeit des Urteils; der Humor für sich allein ist vom Wertvollen <lb n="ple_240.020"/> eingegeben und zur Milde geneigt; er verfällt daher leicht einer <lb n="ple_240.021"/> zu großen Weichheit.“ So stellt Lessing im Nathan den Patriarchen dem <lb n="ple_240.022"/> Klosterbruder gegenüber, so Gustav Freytag in Soll und Haben und nach <lb n="ple_240.023"/> ihm Raabe im Hungerpastor der inneren Tüchtigkeit eines schwerfälligen <lb n="ple_240.024"/> deutschen Jünglings die gewissenlose Gewandtheit des jüdischen Strebers. <lb n="ple_240.025"/> In der Tat sind fast alle bedeutenden Humoristen zugleich Satiriker: Jean <lb n="ple_240.026"/> Paul und Raabe sowohl wie Thackerey und Dickens. Und Reuter, dessen <lb n="ple_240.027"/> satirische Ader bei seiner harmlosen Gutmütigkeit nicht eben entwickelt <lb n="ple_240.028"/> war, empfand das wohl selbst gelegentlich als einen Mangel und stellte <lb n="ple_240.029"/> deshalb die einzige ernsthafte, ja zum Teil pathetische Satire, die er geschrieben <lb n="ple_240.030"/> hat, „Kein Hüsung“, über alle seine anderen Dichtungen. Jeder <lb n="ple_240.031"/> echte Dichter scheut eben instinktiv die Verweichlichung und Verflachung, <lb n="ple_240.032"/> die in dem einseitigen Aufsuchen des Wertvollen, in der ausschließlichen <lb n="ple_240.033"/> Schilderung edler oder doch im Kern braver Menschen liegt. Der Satiriker <lb n="ple_240.034"/> freilich, besonders der pathetische, <hi rendition="#g">will</hi> oft gar nicht die Herbheit seiner <lb n="ple_240.035"/> Eindrücke mildern; ja er steigert sie bisweilen mit voller Absicht bis zum <lb n="ple_240.036"/> Peinlichen. Je entschiedener er nämlich eine außerkünstlerische, praktische <lb n="ple_240.037"/> Tendenz verfolgt, desto weniger wird ihm daran gelegen sein, die Unlustempfindungen, <lb n="ple_240.038"/> die seine Schilderungen erregen, zu mildern, Gutes und <lb n="ple_240.039"/> Schlimmes in einem harmonischen Schlußakkord auszugleichen. Daher die <lb n="ple_240.040"/> unkünstlerisch peinliche Herbheit in den meisten großen Romanen Zolas <lb n="ple_240.041"/> und in den späteren Dichtungen Tolstois: bei beiden hat mit der Zeit <lb n="ple_240.042"/> der Kritiker und der Verkünder sozialer Weisheit den Künstler zurückgedrängt.</p> <lb n="ple_240.043"/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [240/0254]
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der Humorist leicht Gefahr, einseitig zu werden und zu verflachen. Dann ple_240.002
verliert der scherzhafte Humor seine tiefere Bedeutung und fällt ins rein ple_240.003
Komische, der rührende aber wird rührselig und weichlich. Der erstere ple_240.004
Fehler ist ästhetisch der geringere; denn auch das Scherzhafte ohne Wertbeziehung ple_240.005
kann noch künstlerisch wirken. Freilich ist es vom Übel, ple_240.006
wenn, wie in vielen modernen Lustspielen, der Dichter sein Werk mit ple_240.007
dem Anspruch auf eine tiefere Bedeutsamkeit beginnt, denselben aber ple_240.008
später fallen läßt und einfach zum witzigen Spaßmacher wird. Schlimmer ple_240.009
jedoch ist weichliche Rührseligkeit, denn sie verhindert stets eine künstlerische ple_240.010
Wirkung und stößt ernsthafte und männliche Naturen nicht minder ple_240.011
ab wie feinere, künstlerisch gerichtete Geister. Daher bedarf der Humor, ple_240.012
wenn er größere Dichtungen tragen und sich auf künstlerischer Höhe ple_240.013
halten will, eines Gegengewichts, und dieses findet er in seinem Widerspiel, ple_240.014
der Satire. Sehr richtig bemerkt Baumgart (Handbuch der Poetik, ple_240.015
S. 107/108): „Die satirischen Wirkungen und die humoristischen sind ple_240.016
geeignet, sich wechselweise zu ergänzen, und beide müssen, sobald sie ple_240.017
einseitig auftreten, notwendig vereinzelt bleiben. Die Satire für sich allein ple_240.018
ist auf Tadel und Vorwurf gerichtet und begünstigt die Schärfe und ple_240.019
Schonungslosigkeit des Urteils; der Humor für sich allein ist vom Wertvollen ple_240.020
eingegeben und zur Milde geneigt; er verfällt daher leicht einer ple_240.021
zu großen Weichheit.“ So stellt Lessing im Nathan den Patriarchen dem ple_240.022
Klosterbruder gegenüber, so Gustav Freytag in Soll und Haben und nach ple_240.023
ihm Raabe im Hungerpastor der inneren Tüchtigkeit eines schwerfälligen ple_240.024
deutschen Jünglings die gewissenlose Gewandtheit des jüdischen Strebers. ple_240.025
In der Tat sind fast alle bedeutenden Humoristen zugleich Satiriker: Jean ple_240.026
Paul und Raabe sowohl wie Thackerey und Dickens. Und Reuter, dessen ple_240.027
satirische Ader bei seiner harmlosen Gutmütigkeit nicht eben entwickelt ple_240.028
war, empfand das wohl selbst gelegentlich als einen Mangel und stellte ple_240.029
deshalb die einzige ernsthafte, ja zum Teil pathetische Satire, die er geschrieben ple_240.030
hat, „Kein Hüsung“, über alle seine anderen Dichtungen. Jeder ple_240.031
echte Dichter scheut eben instinktiv die Verweichlichung und Verflachung, ple_240.032
die in dem einseitigen Aufsuchen des Wertvollen, in der ausschließlichen ple_240.033
Schilderung edler oder doch im Kern braver Menschen liegt. Der Satiriker ple_240.034
freilich, besonders der pathetische, will oft gar nicht die Herbheit seiner ple_240.035
Eindrücke mildern; ja er steigert sie bisweilen mit voller Absicht bis zum ple_240.036
Peinlichen. Je entschiedener er nämlich eine außerkünstlerische, praktische ple_240.037
Tendenz verfolgt, desto weniger wird ihm daran gelegen sein, die Unlustempfindungen, ple_240.038
die seine Schilderungen erregen, zu mildern, Gutes und ple_240.039
Schlimmes in einem harmonischen Schlußakkord auszugleichen. Daher die ple_240.040
unkünstlerisch peinliche Herbheit in den meisten großen Romanen Zolas ple_240.041
und in den späteren Dichtungen Tolstois: bei beiden hat mit der Zeit ple_240.042
der Kritiker und der Verkünder sozialer Weisheit den Künstler zurückgedrängt.
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