Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_241.001 ple_241.037 21. Über das Tragische. Der Humor setzt voraus, daß das Wertvolle, ple_241.038 ple_241.001 ple_241.037 21. Über das Tragische. Der Humor setzt voraus, daß das Wertvolle, ple_241.038 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0255" n="241"/> <p><lb n="ple_241.001"/> Es springt ins Auge, daß satirische und humoristische Anschauung <lb n="ple_241.002"/> in vielen Fällen nichts als die beiden Kehrseiten derselben Auffassung <lb n="ple_241.003"/> sind: eben indem der wahre Wert des Menschen unabhängig von äußeren <lb n="ple_241.004"/> Gütern und äußerem Glanz auftritt, erscheinen diese letzteren selbst wertlos; <lb n="ple_241.005"/> und umgekehrt treten jene erst in ihrem wahren Wert hervor, indem man <lb n="ple_241.006"/> die Wertlosigkeit des äußeren Scheins erkennt. In der Tat, Humor und <lb n="ple_241.007"/> Satire gehören nicht nur im künstlerischen Sinne zusammen: sie bilden <lb n="ple_241.008"/> vereint eine Art der Weltbetrachtung, aus der die poetische Darstellung erst <lb n="ple_241.009"/> Richtung und Kraft empfängt. Wie die Romantiker und die philosophische <lb n="ple_241.010"/> Ästhetik unter ihrem Einfluß das Wesen des Humors formulierten, mit <lb n="ple_241.011"/> großen Worten und metaphysisch unbestimmten Begriffen, ist für die <lb n="ple_241.012"/> heutige Philosophie ebenso veraltet und verschollen wie für die Kunstlehre; <lb n="ple_241.013"/> Definitionen wie die, daß der Humor „das Unendliche im Endlichen“ <lb n="ple_241.014"/> darstelle, sagen uns nichts mehr. Aber doch bleibt dieser Ästhetik <lb n="ple_241.015"/> das Verdienst, zuerst darauf hingewiesen zu haben, daß hinter jenen künstlerischen <lb n="ple_241.016"/> Richtungen eine Weltanschauung steckt, die sich in ihnen ausspricht. <lb n="ple_241.017"/> Zu einer richtigen Erkenntnis hat auch hier bereits Schiller den <lb n="ple_241.018"/> ersten Ansatz gemacht: er findet in der scherzhaften Satire den Ausdruck <lb n="ple_241.019"/> einer besonderen Lebensansicht, einer überlegenen Heiterkeit der Weltbetrachtung. <lb n="ple_241.020"/> Wir kennen die schöne Stelle in der naiven und sentimentalischen <lb n="ple_241.021"/> Dichtung bereits (S. 233), aber wir sehen nun auch, daß sie einseitig ist. <lb n="ple_241.022"/> Nicht nur Scheinwerte verspotten, sondern zugleich die wahren Werte finden <lb n="ple_241.023"/> und schätzen, nicht nur Laster und Torheiten lachend geißeln, wenn sie sich <lb n="ple_241.024"/> in Glanz und Flitter hüllen, sondern mit gerührtem Lächeln Tüchtigkeit <lb n="ple_241.025"/> und Kraft erkennen, auch wo sie von Staub und Lumpen verborgen sind: <lb n="ple_241.026"/> beides zusammen erst verleiht die wahre Überlegenheit über den Eitelkeitsmarkt <lb n="ple_241.027"/> des Lebens, welche Menschen und Dinge nach ihrem wahren Wert <lb n="ple_241.028"/> zu schätzen sicher ist und in dem scheinbar Dauernden die Hinfälligkeit, <lb n="ple_241.029"/> in dem Vergänglichen die ewige Bedeutsamkeit der Dinge erkennt. Nur <lb n="ple_241.030"/> aus dem Bewußtsein dieser überlegenen Erkenntnis geht die erhabene <lb n="ple_241.031"/> Heiterkeit hervor, für die alle Disharmonien der Welt und des Lebens in <lb n="ple_241.032"/> einen gewaltigen und lustvollen Akkord zusammenklingen. Es ist die <lb n="ple_241.033"/> Stimmung jenes Kophtischen Liedes, die Stimmung, die in erhabenen Tönen <lb n="ple_241.034"/> aus Beethovens achter Symphonie erklingt. Als der dichterische Ausdruck <lb n="ple_241.035"/> einer solchen Stimmung und der Weltanschauung, aus der sie hervorgeht, <lb n="ple_241.036"/> empfängt der Humor seine höchste Bedeutung.</p> </div> <div n="3"> <head> <lb n="ple_241.037"/> <hi rendition="#b">21. Über das Tragische.</hi> </head> <p> Der Humor setzt voraus, daß das Wertvolle, <lb n="ple_241.038"/> auch wenn es nicht über das Gemeine triumphiert, sich doch in <lb n="ple_241.039"/> seiner Sphäre behauptet. Der Träger der sittlichen Werte braucht nicht <lb n="ple_241.040"/> äußerlich über die Schlechten, die ihm entgegenstehen, zu siegen, wie das <lb n="ple_241.041"/> bei manchen Humoristen, besonders bei Dickens, gewöhnlich der Fall ist, <lb n="ple_241.042"/> aber er muß sich in seiner Art erhalten und durchsetzen, zufrieden in dem <lb n="ple_241.043"/> Bewußtsein inneren Reichtums und in der Geringschätzung äußeren Glanzes </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [241/0255]
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Es springt ins Auge, daß satirische und humoristische Anschauung ple_241.002
in vielen Fällen nichts als die beiden Kehrseiten derselben Auffassung ple_241.003
sind: eben indem der wahre Wert des Menschen unabhängig von äußeren ple_241.004
Gütern und äußerem Glanz auftritt, erscheinen diese letzteren selbst wertlos; ple_241.005
und umgekehrt treten jene erst in ihrem wahren Wert hervor, indem man ple_241.006
die Wertlosigkeit des äußeren Scheins erkennt. In der Tat, Humor und ple_241.007
Satire gehören nicht nur im künstlerischen Sinne zusammen: sie bilden ple_241.008
vereint eine Art der Weltbetrachtung, aus der die poetische Darstellung erst ple_241.009
Richtung und Kraft empfängt. Wie die Romantiker und die philosophische ple_241.010
Ästhetik unter ihrem Einfluß das Wesen des Humors formulierten, mit ple_241.011
großen Worten und metaphysisch unbestimmten Begriffen, ist für die ple_241.012
heutige Philosophie ebenso veraltet und verschollen wie für die Kunstlehre; ple_241.013
Definitionen wie die, daß der Humor „das Unendliche im Endlichen“ ple_241.014
darstelle, sagen uns nichts mehr. Aber doch bleibt dieser Ästhetik ple_241.015
das Verdienst, zuerst darauf hingewiesen zu haben, daß hinter jenen künstlerischen ple_241.016
Richtungen eine Weltanschauung steckt, die sich in ihnen ausspricht. ple_241.017
Zu einer richtigen Erkenntnis hat auch hier bereits Schiller den ple_241.018
ersten Ansatz gemacht: er findet in der scherzhaften Satire den Ausdruck ple_241.019
einer besonderen Lebensansicht, einer überlegenen Heiterkeit der Weltbetrachtung. ple_241.020
Wir kennen die schöne Stelle in der naiven und sentimentalischen ple_241.021
Dichtung bereits (S. 233), aber wir sehen nun auch, daß sie einseitig ist. ple_241.022
Nicht nur Scheinwerte verspotten, sondern zugleich die wahren Werte finden ple_241.023
und schätzen, nicht nur Laster und Torheiten lachend geißeln, wenn sie sich ple_241.024
in Glanz und Flitter hüllen, sondern mit gerührtem Lächeln Tüchtigkeit ple_241.025
und Kraft erkennen, auch wo sie von Staub und Lumpen verborgen sind: ple_241.026
beides zusammen erst verleiht die wahre Überlegenheit über den Eitelkeitsmarkt ple_241.027
des Lebens, welche Menschen und Dinge nach ihrem wahren Wert ple_241.028
zu schätzen sicher ist und in dem scheinbar Dauernden die Hinfälligkeit, ple_241.029
in dem Vergänglichen die ewige Bedeutsamkeit der Dinge erkennt. Nur ple_241.030
aus dem Bewußtsein dieser überlegenen Erkenntnis geht die erhabene ple_241.031
Heiterkeit hervor, für die alle Disharmonien der Welt und des Lebens in ple_241.032
einen gewaltigen und lustvollen Akkord zusammenklingen. Es ist die ple_241.033
Stimmung jenes Kophtischen Liedes, die Stimmung, die in erhabenen Tönen ple_241.034
aus Beethovens achter Symphonie erklingt. Als der dichterische Ausdruck ple_241.035
einer solchen Stimmung und der Weltanschauung, aus der sie hervorgeht, ple_241.036
empfängt der Humor seine höchste Bedeutung.
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21. Über das Tragische. Der Humor setzt voraus, daß das Wertvolle, ple_241.038
auch wenn es nicht über das Gemeine triumphiert, sich doch in ple_241.039
seiner Sphäre behauptet. Der Träger der sittlichen Werte braucht nicht ple_241.040
äußerlich über die Schlechten, die ihm entgegenstehen, zu siegen, wie das ple_241.041
bei manchen Humoristen, besonders bei Dickens, gewöhnlich der Fall ist, ple_241.042
aber er muß sich in seiner Art erhalten und durchsetzen, zufrieden in dem ple_241.043
Bewußtsein inneren Reichtums und in der Geringschätzung äußeren Glanzes
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