Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_256.001 ple_256.012 ple_256.033 ple_256.001 ple_256.012 ple_256.033 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0270" n="256"/> <p><lb n="ple_256.001"/> Für den naiven Menschen ist der Tod ein Übel schlechthin, das <lb n="ple_256.002"/> schlimmste, das ihn treffen kann. Dementsprechend sehen wir denn auch, <lb n="ple_256.003"/> daß im Volksepos durchweg der Tod so aufgefaßt wird. Selbst dem Achill, <lb n="ple_256.004"/> der aus eigener Wahl ein frühes Heldenende einem ruhmlosen Leben vorgezogen <lb n="ple_256.005"/> hat, legt der Dichter der Hadesfahrt in der Odysse einen Widerruf <lb n="ple_256.006"/> in den Mund: der kleinste Tagelöhner, der sich des Lebens erfreue, sei <lb n="ple_256.007"/> glücklicher als er. Aus demselben Gefühl heraus beklagt auch in der <lb n="ple_256.008"/> Tragödie Antigone ihren frühen Tod. Moderne Dichter freilich haben die <lb n="ple_256.009"/> Naivität, mit der die antiken Menschen ihre Lebensliebe und Todesfurcht <lb n="ple_256.010"/> zum Ausdruck bringen, nur vereinzelt darzustellen gewagt, besonders <lb n="ple_256.011"/> Goethe im Egmont und Kleist im Prinzen von Homburg.</p> <p><lb n="ple_256.012"/> Wo der Tod so aufgefaßt wird, ist es ohne weiteres erklärlich, wenn <lb n="ple_256.013"/> er schlechthin als Strafe für den Verbrecher erscheint. Die ganze Handlung <lb n="ple_256.014"/> des Nibelungenliedes von Siegfrieds Tod bis zum Untergang der Burgunden <lb n="ple_256.015"/> beruht auf dieser Auffassung: der Tod des Schuldigen ist das einzige Ziel <lb n="ple_256.016"/> des Rächers, dem Tode zu entgehen der Preis des Verteidigungskampfes. <lb n="ple_256.017"/> Kein versöhnendes Moment mischt sich hier in den Gedanken des Sterbens; <lb n="ple_256.018"/> es ist die Strafe schlechthin, wie denn die ganze Überlieferung der Blutrache <lb n="ple_256.019"/> auf dieser Auffassung beruht. Aus derselben Anschauung heraus ist <lb n="ple_256.020"/> die Ermordung der Klystämnestra in der antiken Tragödie zu verstehen, <lb n="ple_256.021"/> und ebenso erscheint in Macbeth und Richard III. der Tod als die letzte <lb n="ple_256.022"/> Strafe für ein verbrecherisches Leben. Allein schon hier mischt sich in <lb n="ple_256.023"/> die Darstellung des Dichters und in die Empfindung des Zuschauers, <lb n="ple_256.024"/> wenigstens im Keim, ein anderes Element: wir fühlen, daß der Untergang <lb n="ple_256.025"/> wie furchtbar er erscheint, doch zugleich Erlösung von einem qualvollen <lb n="ple_256.026"/> Dasein bedeutet. Im Macbeth zeigen uns die letzten Worte, die der <lb n="ple_256.027"/> Held mit dem verderbenbringenden Gegner wechselt, daß der Tod auf <lb n="ple_256.028"/> dem Schlachtfeld ihm schlimmeres erspart; und in dem großen Monolog <lb n="ple_256.029"/> Richards III. nach der Traumszene hat uns der Dichter durch einen plötzlichen <lb n="ple_256.030"/> Ausbruch die erschütternden Seelenqualen seines Helden gezeigt, <lb n="ple_256.031"/> die im Untergrunde des Bewußtseins im Halbschlummer wühlen und von <lb n="ple_256.032"/> denen nur der Tod ihn erlösen kann.</p> <p><lb n="ple_256.033"/> Von diesen Gedanken nun — der Tod als Erlöser von den Qualen <lb n="ple_256.034"/> eines zertrümmerten Daseins und vor allem eines schuldigen Gewissens — <lb n="ple_256.035"/> weiß die antike Dichtung noch nichts; nur ein erster Ansatz dazu findet <lb n="ple_256.036"/> sich etwa im Ödipus auf Kolonos. Diese Anschauung gehört erst der <lb n="ple_256.037"/> durch die Schule des Christentums gegangenen Menschheit an; erst hier <lb n="ple_256.038"/> erscheint der Tod als erlösende und versöhnende Macht. Der Selbstmörder <lb n="ple_256.039"/> auf der antiken Bühne legt in leidenschaftlicher Aufwallung Hand an sich, <lb n="ple_256.040"/> wie Hämon und Euridice in der Antigone, oder aus Scham wie Ajas; <lb n="ple_256.041"/> Shakespeares Brutus aber und Grillparzers Sappho töten sich im vollen <lb n="ple_256.042"/> Gefühl der Todessehnsucht, dem Bewußtsein, daß das Sterben die Erlösung <lb n="ple_256.043"/> von einem unerträglichen Dasein für sie ist. Zugleich tritt hier jene </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [256/0270]
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Für den naiven Menschen ist der Tod ein Übel schlechthin, das ple_256.002
schlimmste, das ihn treffen kann. Dementsprechend sehen wir denn auch, ple_256.003
daß im Volksepos durchweg der Tod so aufgefaßt wird. Selbst dem Achill, ple_256.004
der aus eigener Wahl ein frühes Heldenende einem ruhmlosen Leben vorgezogen ple_256.005
hat, legt der Dichter der Hadesfahrt in der Odysse einen Widerruf ple_256.006
in den Mund: der kleinste Tagelöhner, der sich des Lebens erfreue, sei ple_256.007
glücklicher als er. Aus demselben Gefühl heraus beklagt auch in der ple_256.008
Tragödie Antigone ihren frühen Tod. Moderne Dichter freilich haben die ple_256.009
Naivität, mit der die antiken Menschen ihre Lebensliebe und Todesfurcht ple_256.010
zum Ausdruck bringen, nur vereinzelt darzustellen gewagt, besonders ple_256.011
Goethe im Egmont und Kleist im Prinzen von Homburg.
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Wo der Tod so aufgefaßt wird, ist es ohne weiteres erklärlich, wenn ple_256.013
er schlechthin als Strafe für den Verbrecher erscheint. Die ganze Handlung ple_256.014
des Nibelungenliedes von Siegfrieds Tod bis zum Untergang der Burgunden ple_256.015
beruht auf dieser Auffassung: der Tod des Schuldigen ist das einzige Ziel ple_256.016
des Rächers, dem Tode zu entgehen der Preis des Verteidigungskampfes. ple_256.017
Kein versöhnendes Moment mischt sich hier in den Gedanken des Sterbens; ple_256.018
es ist die Strafe schlechthin, wie denn die ganze Überlieferung der Blutrache ple_256.019
auf dieser Auffassung beruht. Aus derselben Anschauung heraus ist ple_256.020
die Ermordung der Klystämnestra in der antiken Tragödie zu verstehen, ple_256.021
und ebenso erscheint in Macbeth und Richard III. der Tod als die letzte ple_256.022
Strafe für ein verbrecherisches Leben. Allein schon hier mischt sich in ple_256.023
die Darstellung des Dichters und in die Empfindung des Zuschauers, ple_256.024
wenigstens im Keim, ein anderes Element: wir fühlen, daß der Untergang ple_256.025
wie furchtbar er erscheint, doch zugleich Erlösung von einem qualvollen ple_256.026
Dasein bedeutet. Im Macbeth zeigen uns die letzten Worte, die der ple_256.027
Held mit dem verderbenbringenden Gegner wechselt, daß der Tod auf ple_256.028
dem Schlachtfeld ihm schlimmeres erspart; und in dem großen Monolog ple_256.029
Richards III. nach der Traumszene hat uns der Dichter durch einen plötzlichen ple_256.030
Ausbruch die erschütternden Seelenqualen seines Helden gezeigt, ple_256.031
die im Untergrunde des Bewußtseins im Halbschlummer wühlen und von ple_256.032
denen nur der Tod ihn erlösen kann.
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Von diesen Gedanken nun — der Tod als Erlöser von den Qualen ple_256.034
eines zertrümmerten Daseins und vor allem eines schuldigen Gewissens — ple_256.035
weiß die antike Dichtung noch nichts; nur ein erster Ansatz dazu findet ple_256.036
sich etwa im Ödipus auf Kolonos. Diese Anschauung gehört erst der ple_256.037
durch die Schule des Christentums gegangenen Menschheit an; erst hier ple_256.038
erscheint der Tod als erlösende und versöhnende Macht. Der Selbstmörder ple_256.039
auf der antiken Bühne legt in leidenschaftlicher Aufwallung Hand an sich, ple_256.040
wie Hämon und Euridice in der Antigone, oder aus Scham wie Ajas; ple_256.041
Shakespeares Brutus aber und Grillparzers Sappho töten sich im vollen ple_256.042
Gefühl der Todessehnsucht, dem Bewußtsein, daß das Sterben die Erlösung ple_256.043
von einem unerträglichen Dasein für sie ist. Zugleich tritt hier jene
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