Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_023.001 ple_023.019 ple_023.025 ple_023.001 ple_023.019 ple_023.025 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0037" n="23"/><lb n="ple_023.001"/> daß ästhetische Eindrücke und Wirkungen in der psychischen Natur des <lb n="ple_023.002"/> Menschen ihre Erklärung finden. Die psychologische Tendenz der heutigen <lb n="ple_023.003"/> <hi rendition="#g">Poetik</hi> erhält nun aber ein noch bestimmteres Gepräge dadurch, daß sie <lb n="ple_023.004"/> im allgemeinen nicht, wie frühere Epochen getan haben, den <hi rendition="#g">Wirkungen</hi> <lb n="ple_023.005"/> des Dichtwerks, sondern seiner <hi rendition="#g">Entstehung</hi> nachgeht und aus dem Prozeß <lb n="ple_023.006"/> in der Seele des Dichters die Eigenart der einzelnen Dichtungen wie der <lb n="ple_023.007"/> Poesie überhaupt erklären will. Ihre Verallgemeinerungen münden nicht <lb n="ple_023.008"/> in die ästhetischen Kategorien des Schönen, Erhabenen u. s. w., sondern <lb n="ple_023.009"/> in die psychologischen der Phantasie überhaupt und der dichterischen Einbildungskraft <lb n="ple_023.010"/> insbesondere. Den Zusammenhang der produktiven Phantasie <lb n="ple_023.011"/> mit der Gesamtanlage der dichterischen Individualität will sie ergründen <lb n="ple_023.012"/> und auf diese Weise zugleich der allgemeinen psychologischen Forschung, <lb n="ple_023.013"/> soweit sie der Phantasietätigkeit gilt, und der Individualpsychologie fruchtbare <lb n="ple_023.014"/> Dienste leisten. Die Einsicht in das Seelenleben des Dichters und <lb n="ple_023.015"/> in das Wesen seiner produktiven Kraft ist das Ziel, das sich nicht nur die <lb n="ple_023.016"/> Poetik als solche, sondern in Abhängigkeit von ihr auch die heutige <lb n="ple_023.017"/> Literaturwissenschaft, wenigstens soweit sie die neuere Zeit behandelt, gesteckt <lb n="ple_023.018"/> hat.</p> <p><lb n="ple_023.019"/> Es erhebt sich nunmehr die Frage, wie weit die Wissenschaft der <lb n="ple_023.020"/> Gegenwart nach ihren Mitteln und Methoden imstande ist, so hoch gesteckten <lb n="ple_023.021"/> Zielen nahe zu kommen. Und da zeigt es sich bald, daß sich <lb n="ple_023.022"/> ihrem Wege eine Reihe von Schwierigkeiten entgegenstellt, die, wenn nicht <lb n="ple_023.023"/> als dauernd unüberwindlich, so doch als vorläufig entscheidende Hemmnisse <lb n="ple_023.024"/> betrachtet werden müssen.</p> <p><lb n="ple_023.025"/> Auf welches Material — so müssen wir zunächst doch wohl fragen — <lb n="ple_023.026"/> kann eine Psychologie der Dichtkunst sich stützen? Welche Mittel stehen <lb n="ple_023.027"/> ihr zu Gebote, um zu einer induktiven Erkenntnis der dichterischen Einbildungskraft <lb n="ple_023.028"/> zu gelangen? Die erste Erkenntnisquelle des Psychologen, <lb n="ple_023.029"/> die unmittelbare Beobachtung, sei es an der eigenen Person, sei es an <lb n="ple_023.030"/> anderen, versagt hier so gut wie vollständig. Den Dichter selbst bei seiner <lb n="ple_023.031"/> schöpferischen Tätigkeit zu belauschen, diese Tätigkeit so genau zu verfolgen, <lb n="ple_023.032"/> daß der innere Vorgang, ich will gar nicht sagen lückenlos, aber <lb n="ple_023.033"/> doch wenigstens in seinen Hauptphasen klar zutage tritt, ist wohl noch <lb n="ple_023.034"/> niemals einem Beobachter gelungen, am wenigsten einem psychologisch <lb n="ple_023.035"/> geschulten; nur durch ein unwahrscheinliches Zusammentreffen von Umständen <lb n="ple_023.036"/> wäre das in einem einzelnen Falle einmal möglich, der dann <lb n="ple_023.037"/> wissenschaftlich auch noch nicht viel begründen könnte. Und die Selbstbeobachtung <lb n="ple_023.038"/> kann den, der nicht Dichter ist, über das Wesen des dichterischen <lb n="ple_023.039"/> Schaffens niemals belehren. Es ist ein eigentümlich schiefer Gedanke <lb n="ple_023.040"/> Scherers, daß sich aus den gemeinverständlichen Elementen, welche im <lb n="ple_023.041"/> dichterischen Prozeß mit unterlaufen, und die jeder nacherleben kann, Aufschluß <lb n="ple_023.042"/> über das Wesen des schöpferischen Vorgangs ergeben soll (siehe oben <lb n="ple_023.043"/> S. 18). Denn was wir suchen, ist ja eben das, was der schöpferische Geist </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [23/0037]
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daß ästhetische Eindrücke und Wirkungen in der psychischen Natur des ple_023.002
Menschen ihre Erklärung finden. Die psychologische Tendenz der heutigen ple_023.003
Poetik erhält nun aber ein noch bestimmteres Gepräge dadurch, daß sie ple_023.004
im allgemeinen nicht, wie frühere Epochen getan haben, den Wirkungen ple_023.005
des Dichtwerks, sondern seiner Entstehung nachgeht und aus dem Prozeß ple_023.006
in der Seele des Dichters die Eigenart der einzelnen Dichtungen wie der ple_023.007
Poesie überhaupt erklären will. Ihre Verallgemeinerungen münden nicht ple_023.008
in die ästhetischen Kategorien des Schönen, Erhabenen u. s. w., sondern ple_023.009
in die psychologischen der Phantasie überhaupt und der dichterischen Einbildungskraft ple_023.010
insbesondere. Den Zusammenhang der produktiven Phantasie ple_023.011
mit der Gesamtanlage der dichterischen Individualität will sie ergründen ple_023.012
und auf diese Weise zugleich der allgemeinen psychologischen Forschung, ple_023.013
soweit sie der Phantasietätigkeit gilt, und der Individualpsychologie fruchtbare ple_023.014
Dienste leisten. Die Einsicht in das Seelenleben des Dichters und ple_023.015
in das Wesen seiner produktiven Kraft ist das Ziel, das sich nicht nur die ple_023.016
Poetik als solche, sondern in Abhängigkeit von ihr auch die heutige ple_023.017
Literaturwissenschaft, wenigstens soweit sie die neuere Zeit behandelt, gesteckt ple_023.018
hat.
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Es erhebt sich nunmehr die Frage, wie weit die Wissenschaft der ple_023.020
Gegenwart nach ihren Mitteln und Methoden imstande ist, so hoch gesteckten ple_023.021
Zielen nahe zu kommen. Und da zeigt es sich bald, daß sich ple_023.022
ihrem Wege eine Reihe von Schwierigkeiten entgegenstellt, die, wenn nicht ple_023.023
als dauernd unüberwindlich, so doch als vorläufig entscheidende Hemmnisse ple_023.024
betrachtet werden müssen.
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Auf welches Material — so müssen wir zunächst doch wohl fragen — ple_023.026
kann eine Psychologie der Dichtkunst sich stützen? Welche Mittel stehen ple_023.027
ihr zu Gebote, um zu einer induktiven Erkenntnis der dichterischen Einbildungskraft ple_023.028
zu gelangen? Die erste Erkenntnisquelle des Psychologen, ple_023.029
die unmittelbare Beobachtung, sei es an der eigenen Person, sei es an ple_023.030
anderen, versagt hier so gut wie vollständig. Den Dichter selbst bei seiner ple_023.031
schöpferischen Tätigkeit zu belauschen, diese Tätigkeit so genau zu verfolgen, ple_023.032
daß der innere Vorgang, ich will gar nicht sagen lückenlos, aber ple_023.033
doch wenigstens in seinen Hauptphasen klar zutage tritt, ist wohl noch ple_023.034
niemals einem Beobachter gelungen, am wenigsten einem psychologisch ple_023.035
geschulten; nur durch ein unwahrscheinliches Zusammentreffen von Umständen ple_023.036
wäre das in einem einzelnen Falle einmal möglich, der dann ple_023.037
wissenschaftlich auch noch nicht viel begründen könnte. Und die Selbstbeobachtung ple_023.038
kann den, der nicht Dichter ist, über das Wesen des dichterischen ple_023.039
Schaffens niemals belehren. Es ist ein eigentümlich schiefer Gedanke ple_023.040
Scherers, daß sich aus den gemeinverständlichen Elementen, welche im ple_023.041
dichterischen Prozeß mit unterlaufen, und die jeder nacherleben kann, Aufschluß ple_023.042
über das Wesen des schöpferischen Vorgangs ergeben soll (siehe oben ple_023.043
S. 18). Denn was wir suchen, ist ja eben das, was der schöpferische Geist
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