Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_024.001 ple_024.007 ple_024.001 ple_024.007 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0038" n="24"/><lb n="ple_024.001"/> allein erlebt und vor jedem anderen voraus hat. Auch gibt das Scherer selbst <lb n="ple_024.002"/> zu, aber er gerät dadurch offenbar in einen Widerspruch; denn eine Erscheinung <lb n="ple_024.003"/> ist doch noch nicht verstanden, wenn man einige ihrer Faktoren <lb n="ple_024.004"/> kennt, andere aber und noch dazu die wesentlicheren nicht. Das methodische <lb n="ple_024.005"/> Prinzip, das in seinem Satze liegt, ist irreführend und hat tatsächlich <lb n="ple_024.006"/> Verkehrtheiten hervorgerufen.</p> <p><lb n="ple_024.007"/> Es bleibt somit einzig noch die Möglichkeit, daß der Selbstbeobachter <lb n="ple_024.008"/> zugleich Dichter ist, oder anders ausgedrückt, ein Dichter selbst sich oder <lb n="ple_024.009"/> anderen Rechenschaft über den Vorgang ablegt, durch den seine Werke <lb n="ple_024.010"/> zustande kommen. Bekanntlich besitzen wir eine Reihe solcher Selbstzeugnisse <lb n="ple_024.011"/> in Tagebüchern, Briefen und mündlichen Äußerungen, und die <lb n="ple_024.012"/> moderne Literaturwissenschaft verfehlt denn auch nicht, ein besonderes Gewicht <lb n="ple_024.013"/> auf diese zu legen, an sich gewiß nicht mit Unrecht, eben weil hier <lb n="ple_024.014"/> der einzige Zugang zur Lösung des Problems zu liegen scheint. Allein <lb n="ple_024.015"/> auch hier sind von vornherein erhebliche Einschränkungen und Vorsichtsmaßregeln <lb n="ple_024.016"/> geboten. Kein Dichter beobachtet sich mit der Unparteilichkeit <lb n="ple_024.017"/> und objektiven Sachlichkeit eines wissenschaftlichen Psychologen, keiner <lb n="ple_024.018"/> mit dem Interesse an der lückenlosen Vollständigkeit und Verständlichkeit <lb n="ple_024.019"/> des Vorgangs, das den wissenschaftlichen Methoden allein eignet. Ja, mehr <lb n="ple_024.020"/> als das: selbst die Möglichkeit einer solchen Beobachtung erscheint ausgeschlossen. <lb n="ple_024.021"/> Die Momente höchster Steigerung der geistigen Kräfte sind <lb n="ple_024.022"/> immer, daran kann gar kein Zweifel sein, Momente höchster Konzentration. <lb n="ple_024.023"/> Die schöpferische Tätigkeit, welche die geistigen Kräfte mehr als jede <lb n="ple_024.024"/> andere anspannt und steigert, schließt mithin jede einigermaßen stetige <lb n="ple_024.025"/> und zusammenhängende Selbstbeobachtung aus, und der Dichter kann <lb n="ple_024.026"/> über diese Zustände und Erlebnisse nur aus der Erinnerung berichten. <lb n="ple_024.027"/> Diese Quelle aber erscheint noch besonders getrübt, weil — gerade darin <lb n="ple_024.028"/> stimmen die größten produktiven Künstler überein — die dichterische Konzeption <lb n="ple_024.029"/> immer in einem Zustand von Selbstvergessenheit vor sich geht, <lb n="ple_024.030"/> den größten physischen und psychischen Erregungen des Lebens, dem <lb n="ple_024.031"/> Rausch oder den Sexualaffekten vergleichbar. Selbsttäuschungen sind daher <lb n="ple_024.032"/> bei solchen nachträglichen Reflexionen in keiner Weise ausgeschlossen. <lb n="ple_024.033"/> Wir können sie bisweilen mit Händen greifen und ihre Quelle, wenigstens <lb n="ple_024.034"/> hypothetisch, nachweisen; aber auch wo das nicht der Fall ist, werden wir <lb n="ple_024.035"/> nicht mehr erwarten dürfen als Mitteilungen oder Bemerkungen über einzelne <lb n="ple_024.036"/> Züge des Vorgangs, die sich etwa dem Dichter als persönlich wichtig <lb n="ple_024.037"/> aufdrängen. Solche einzelne Streiflichter aber, auch wenn sie Wesentliches <lb n="ple_024.038"/> treffen, sind noch keine erschöpfenden Beobachtungen, aus denen man den <lb n="ple_024.039"/> ganzen Vorgang erschließen und erklären könnte. Versucht man gleichwohl, <lb n="ple_024.040"/> sie zu umfassenderen Zwecken auszunutzen, so gerät man zumeist <lb n="ple_024.041"/> auf schiefe Bahnen. Gerade einige der am meisten angeführten und benutzten <lb n="ple_024.042"/> Selbstzeugnisse unterliegen diesen Bedenken. Zwei derselben <lb n="ple_024.043"/> mögen als Beispiele angeführt werden.</p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [24/0038]
ple_024.001
allein erlebt und vor jedem anderen voraus hat. Auch gibt das Scherer selbst ple_024.002
zu, aber er gerät dadurch offenbar in einen Widerspruch; denn eine Erscheinung ple_024.003
ist doch noch nicht verstanden, wenn man einige ihrer Faktoren ple_024.004
kennt, andere aber und noch dazu die wesentlicheren nicht. Das methodische ple_024.005
Prinzip, das in seinem Satze liegt, ist irreführend und hat tatsächlich ple_024.006
Verkehrtheiten hervorgerufen.
ple_024.007
Es bleibt somit einzig noch die Möglichkeit, daß der Selbstbeobachter ple_024.008
zugleich Dichter ist, oder anders ausgedrückt, ein Dichter selbst sich oder ple_024.009
anderen Rechenschaft über den Vorgang ablegt, durch den seine Werke ple_024.010
zustande kommen. Bekanntlich besitzen wir eine Reihe solcher Selbstzeugnisse ple_024.011
in Tagebüchern, Briefen und mündlichen Äußerungen, und die ple_024.012
moderne Literaturwissenschaft verfehlt denn auch nicht, ein besonderes Gewicht ple_024.013
auf diese zu legen, an sich gewiß nicht mit Unrecht, eben weil hier ple_024.014
der einzige Zugang zur Lösung des Problems zu liegen scheint. Allein ple_024.015
auch hier sind von vornherein erhebliche Einschränkungen und Vorsichtsmaßregeln ple_024.016
geboten. Kein Dichter beobachtet sich mit der Unparteilichkeit ple_024.017
und objektiven Sachlichkeit eines wissenschaftlichen Psychologen, keiner ple_024.018
mit dem Interesse an der lückenlosen Vollständigkeit und Verständlichkeit ple_024.019
des Vorgangs, das den wissenschaftlichen Methoden allein eignet. Ja, mehr ple_024.020
als das: selbst die Möglichkeit einer solchen Beobachtung erscheint ausgeschlossen. ple_024.021
Die Momente höchster Steigerung der geistigen Kräfte sind ple_024.022
immer, daran kann gar kein Zweifel sein, Momente höchster Konzentration. ple_024.023
Die schöpferische Tätigkeit, welche die geistigen Kräfte mehr als jede ple_024.024
andere anspannt und steigert, schließt mithin jede einigermaßen stetige ple_024.025
und zusammenhängende Selbstbeobachtung aus, und der Dichter kann ple_024.026
über diese Zustände und Erlebnisse nur aus der Erinnerung berichten. ple_024.027
Diese Quelle aber erscheint noch besonders getrübt, weil — gerade darin ple_024.028
stimmen die größten produktiven Künstler überein — die dichterische Konzeption ple_024.029
immer in einem Zustand von Selbstvergessenheit vor sich geht, ple_024.030
den größten physischen und psychischen Erregungen des Lebens, dem ple_024.031
Rausch oder den Sexualaffekten vergleichbar. Selbsttäuschungen sind daher ple_024.032
bei solchen nachträglichen Reflexionen in keiner Weise ausgeschlossen. ple_024.033
Wir können sie bisweilen mit Händen greifen und ihre Quelle, wenigstens ple_024.034
hypothetisch, nachweisen; aber auch wo das nicht der Fall ist, werden wir ple_024.035
nicht mehr erwarten dürfen als Mitteilungen oder Bemerkungen über einzelne ple_024.036
Züge des Vorgangs, die sich etwa dem Dichter als persönlich wichtig ple_024.037
aufdrängen. Solche einzelne Streiflichter aber, auch wenn sie Wesentliches ple_024.038
treffen, sind noch keine erschöpfenden Beobachtungen, aus denen man den ple_024.039
ganzen Vorgang erschließen und erklären könnte. Versucht man gleichwohl, ple_024.040
sie zu umfassenderen Zwecken auszunutzen, so gerät man zumeist ple_024.041
auf schiefe Bahnen. Gerade einige der am meisten angeführten und benutzten ple_024.042
Selbstzeugnisse unterliegen diesen Bedenken. Zwei derselben ple_024.043
mögen als Beispiele angeführt werden.
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |