Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_025.001 ple_025.004 ple_025.005 ple_025.001 ple_025.004 ple_025.005 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0039" n="25"/> <p><lb n="ple_025.001"/> Otto Ludwig hat sein dichterisches Verfahren bekanntlich wiederholt <lb n="ple_025.002"/> und ausführlich geschildert. Aus den drei Berichten, die er uns darüber <lb n="ple_025.003"/> zurückgelassen hat, seien hier die beiden wichtigsten im Auszug angeführt.</p> <p><lb n="ple_025.004"/> Zunächst heißt es in den Shakespearestudien S. 303 f.:</p> <p><lb n="ple_025.005"/> „Nun ist mir das Rätsel meines früheren Schaffens psychologisch <lb n="ple_025.006"/> gelöst. Erst bloße Stimmung, zu der sich eine Farbe gesellte, entweder <lb n="ple_025.007"/> ein tiefes, mildes Goldgelb, oder ein glühendes Karmoisin. In dieser Beleuchtung <lb n="ple_025.008"/> wurde allmählich eine Gestalt sichtbar, wenn ich nicht sagen <lb n="ple_025.009"/> soll, eine Stellung, d. h. die Fabel erfand sich, und ihre Erfindung war <lb n="ple_025.010"/> nichts anderes als das Entstehen und Fertigwerden der Gestalt und Stellung. <lb n="ple_025.011"/> Aber diese war so sehr Hauptsache, d. h. diese genau begrenzte lebendigste <lb n="ple_025.012"/> Anschauung eines Menschen in einer gewissen Stellung, daß, sowie das <lb n="ple_025.013"/> mindeste daran unbestimmt wurde, meine Fabel und meine Intentionen <lb n="ple_025.014"/> sich verwirrten, und ich selber nicht mehr wußte, trotz möglichst detailliert <lb n="ple_025.015"/> aufgeschriebenen Planes, was ich wollte, wo dann, wenn ich mich zum <lb n="ple_025.016"/> Arbeiten doch zwang, die Einzelheiten für sich selbst ins einzelnste zaserten <lb n="ple_025.017"/> und eine Menge Detail hineinschwoll in üppiger Anarchie. Jenes Farben- <lb n="ple_025.018"/> und Formenspektrum, welches mich, solange es in klarster Sinnlichkeit <lb n="ple_025.019"/> dastand, in jedem Augenblick und in den heterogensten Umgebungen und <lb n="ple_025.020"/> Beschäftigungen wie ein Mahner umschwebte und mein ganzes Wesen in <lb n="ple_025.021"/> Aufregung setzte, in einen Zustand, ähnlich dem einer Schwangeren, der <lb n="ple_025.022"/> Geburt nahe und in der Geburtsarbeit, ein liebend Festhalten und doch <lb n="ple_025.023"/> Hinausdrängen des, was vom eigenen Wesen sich losgelöst hat, Ding für <lb n="ple_025.024"/> sich geworden ist. Nun weiß ich, was jene Gestalt und ihre Gebärde war: <lb n="ple_025.025"/> nichts anderes als der sinnlich angeschaute, tragische Widerspruch; der <lb n="ple_025.026"/> eine Faktor die Gestalt, die Existenz (der Grund davon), der andere die <lb n="ple_025.027"/> Gebärde. Der sinnlich angeschaute prägnante Moment, in welchem am <lb n="ple_025.028"/> schärfsten Kontraste die Einheit erscheint. Sonderbar, jetzt, wo ich von <lb n="ple_025.029"/> dem Allgemeinen ausgehe, von den Gesetzen der Gattung, wie sie mir ein <lb n="ple_025.030"/> sorgfältiges Studium gelehrt, folgt jene Erscheinung, jenes Spektrum der <lb n="ple_025.031"/> Feststellung des Planes oder dem vollständigen Entwurfe der Fabel. Mein <lb n="ple_025.032"/> Albrecht stellt sich mir nun als solches psychologisches oder vielmehr <lb n="ple_025.033"/> pathologisches Formen- und Farbenspektrum dar, als eine sanfte Existenz <lb n="ple_025.034"/> in gewaltsamer Gebärde (Zorn in Gestalt von Leiden), die Agnes als sittige <lb n="ple_025.035"/> Gestalt in leidenschaftlicher Gebärde. Resignierter Trotz auf dem Grunde <lb n="ple_025.036"/> der Humanität, leidenschaftliches Bedürfnis auf dem Grunde ruhiger Schönheit. <lb n="ple_025.037"/> Der Erbförster, der Judah und die Leah, auch selbst die Heiterethei <lb n="ple_025.038"/> schwebten mir in solchen Anschauungen vor, das glühende Gefühl für <lb n="ple_025.039"/> Recht im Momente, wo es Unrecht tut; darin liegt alles Vorher und Nachher. <lb n="ple_025.040"/> Beim Anhören einer Beethovenschen Symphonie stand dies Bild plötzlich <lb n="ple_025.041"/> vor mir, in glühend karmoisinem Lichte, wie in bengalischer Beleuchtung, <lb n="ple_025.042"/> eine Gestalt, die mit ihrer Gebärde im Widerspruch, ohne daß ich es <lb n="ple_025.043"/> noch wußte, wer die Gestalt, noch was ihr Tun sei. Das wurde mir erst </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [25/0039]
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Otto Ludwig hat sein dichterisches Verfahren bekanntlich wiederholt ple_025.002
und ausführlich geschildert. Aus den drei Berichten, die er uns darüber ple_025.003
zurückgelassen hat, seien hier die beiden wichtigsten im Auszug angeführt.
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Zunächst heißt es in den Shakespearestudien S. 303 f.:
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„Nun ist mir das Rätsel meines früheren Schaffens psychologisch ple_025.006
gelöst. Erst bloße Stimmung, zu der sich eine Farbe gesellte, entweder ple_025.007
ein tiefes, mildes Goldgelb, oder ein glühendes Karmoisin. In dieser Beleuchtung ple_025.008
wurde allmählich eine Gestalt sichtbar, wenn ich nicht sagen ple_025.009
soll, eine Stellung, d. h. die Fabel erfand sich, und ihre Erfindung war ple_025.010
nichts anderes als das Entstehen und Fertigwerden der Gestalt und Stellung. ple_025.011
Aber diese war so sehr Hauptsache, d. h. diese genau begrenzte lebendigste ple_025.012
Anschauung eines Menschen in einer gewissen Stellung, daß, sowie das ple_025.013
mindeste daran unbestimmt wurde, meine Fabel und meine Intentionen ple_025.014
sich verwirrten, und ich selber nicht mehr wußte, trotz möglichst detailliert ple_025.015
aufgeschriebenen Planes, was ich wollte, wo dann, wenn ich mich zum ple_025.016
Arbeiten doch zwang, die Einzelheiten für sich selbst ins einzelnste zaserten ple_025.017
und eine Menge Detail hineinschwoll in üppiger Anarchie. Jenes Farben- ple_025.018
und Formenspektrum, welches mich, solange es in klarster Sinnlichkeit ple_025.019
dastand, in jedem Augenblick und in den heterogensten Umgebungen und ple_025.020
Beschäftigungen wie ein Mahner umschwebte und mein ganzes Wesen in ple_025.021
Aufregung setzte, in einen Zustand, ähnlich dem einer Schwangeren, der ple_025.022
Geburt nahe und in der Geburtsarbeit, ein liebend Festhalten und doch ple_025.023
Hinausdrängen des, was vom eigenen Wesen sich losgelöst hat, Ding für ple_025.024
sich geworden ist. Nun weiß ich, was jene Gestalt und ihre Gebärde war: ple_025.025
nichts anderes als der sinnlich angeschaute, tragische Widerspruch; der ple_025.026
eine Faktor die Gestalt, die Existenz (der Grund davon), der andere die ple_025.027
Gebärde. Der sinnlich angeschaute prägnante Moment, in welchem am ple_025.028
schärfsten Kontraste die Einheit erscheint. Sonderbar, jetzt, wo ich von ple_025.029
dem Allgemeinen ausgehe, von den Gesetzen der Gattung, wie sie mir ein ple_025.030
sorgfältiges Studium gelehrt, folgt jene Erscheinung, jenes Spektrum der ple_025.031
Feststellung des Planes oder dem vollständigen Entwurfe der Fabel. Mein ple_025.032
Albrecht stellt sich mir nun als solches psychologisches oder vielmehr ple_025.033
pathologisches Formen- und Farbenspektrum dar, als eine sanfte Existenz ple_025.034
in gewaltsamer Gebärde (Zorn in Gestalt von Leiden), die Agnes als sittige ple_025.035
Gestalt in leidenschaftlicher Gebärde. Resignierter Trotz auf dem Grunde ple_025.036
der Humanität, leidenschaftliches Bedürfnis auf dem Grunde ruhiger Schönheit. ple_025.037
Der Erbförster, der Judah und die Leah, auch selbst die Heiterethei ple_025.038
schwebten mir in solchen Anschauungen vor, das glühende Gefühl für ple_025.039
Recht im Momente, wo es Unrecht tut; darin liegt alles Vorher und Nachher. ple_025.040
Beim Anhören einer Beethovenschen Symphonie stand dies Bild plötzlich ple_025.041
vor mir, in glühend karmoisinem Lichte, wie in bengalischer Beleuchtung, ple_025.042
eine Gestalt, die mit ihrer Gebärde im Widerspruch, ohne daß ich es ple_025.043
noch wußte, wer die Gestalt, noch was ihr Tun sei. Das wurde mir erst
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