Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_026.001 ple_026.003 ple_026.004 ple_026.034 ple_026.001 ple_026.003 ple_026.004 ple_026.034 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0040" n="26"/><lb n="ple_026.001"/> allmählich klar, wie die Fabel entstand, wobei mein Wille und alle bewußte <lb n="ple_026.002"/> Tätigkeit sich ruhig und passiv verhielten.“</p> <p><lb n="ple_026.003"/> Und im Nachlaß des Dichters I 45 heißt es:</p> <p><lb n="ple_026.004"/> „Mein Verfahren ist dies: es geht eine Stimmung voraus, eine musikalische, <lb n="ple_026.005"/> die wird mir zur Farbe, dann seh' ich Gestalten, eine oder mehrere <lb n="ple_026.006"/> in irgend einer Stellung und Gebärdung für sich oder gegeneinander, <lb n="ple_026.007"/> und dies wie einen Kupferstich auf Papier von jener Farbe, oder genauer <lb n="ple_026.008"/> ausgedrückt, wie eine Marmorstatue oder plastische Gruppe, auf welche <lb n="ple_026.009"/> die Sonne durch einen Vorhang fällt, der jene Farbe hat. Wunderlicherweise <lb n="ple_026.010"/> ist jenes Bild oder jene Gruppe gewöhnlich nicht das Bild der Katastrophe, <lb n="ple_026.011"/> manchmal nur eine charakteristische Figur in irgend einer pathetischen <lb n="ple_026.012"/> Stellung; an diese schließt sich aber sogleich eine ganze Reihe, <lb n="ple_026.013"/> und vom Stücke erfahr' ich nicht die Fabel, den novellistischen Inhalt <lb n="ple_026.014"/> zuerst, sondern bald nach vorwärts, bald nach dem Ende zu von der erst <lb n="ple_026.015"/> gesehenen Situation aus, schließen immer neue plastisch-mimische Gestalten <lb n="ple_026.016"/> und Gruppen an, bis ich das ganze Stück in allen seinen Szenen habe; <lb n="ple_026.017"/> dies alles in großer Hast, wobei mein Bewußtsein ganz leidend sich verhält <lb n="ple_026.018"/> und eine Art körperlicher Beängstigung mich in Händen hat. Den <lb n="ple_026.019"/> Inhalt aller einzelnen Szenen kann ich mir dann auch in der Reihenfolge <lb n="ple_026.020"/> willkürlich reproduzieren; aber den novellistischen Inhalt in eine kurze Erzählung <lb n="ple_026.021"/> zu bringen ist mir unmöglich. Nun findet sich zu den Gebärden <lb n="ple_026.022"/> auch die Sprache. Ich schreibe auf, was ich aufschreiben kann, aber wenn <lb n="ple_026.023"/> mich die Stimmung verläßt, ist mir das Aufgeschriebene nur ein toter Buchstabe. <lb n="ple_026.024"/> Nun geb' ich mich daran, die Lücken des Dialogs auszufüllen. <lb n="ple_026.025"/> Dazu muß ich das Vorhandene mit kritischen Augen ansehen. Ich suche <lb n="ple_026.026"/> die Idee, die der Generalnenner aller dieser Einzelheiten ist, oder wenn <lb n="ple_026.027"/> ich so sagen soll, ich suche die Idee, die, mir unbewußt, die schaffende <lb n="ple_026.028"/> Kraft und der Zusammenhang der Erscheinungen war; dann such' ich <lb n="ple_026.029"/> ebenso die Gelenke der Handlung, um den Kausalnexus mir zu verdeutlichen, <lb n="ple_026.030"/> ebenso die psychologischen Gesetze der einzelnen Züge, den vollständigen <lb n="ple_026.031"/> Inhalt der Situationen, ich ordne das Verwirrte, und mache nun <lb n="ple_026.032"/> meinen Plan, in dem nichts mehr dem bloßen Instinkt angehört, alles Absicht <lb n="ple_026.033"/> und Berechnung ist, im ganzen und bis in das einzelne Wort hinein.“</p> <p><lb n="ple_026.034"/> Man sieht, der Dichter versucht hier bis ins einzelne hinein den Zusammenhang <lb n="ple_026.035"/> seines Verfahrens oder richtiger seiner inneren Erlebnisse <lb n="ple_026.036"/> wiederzugeben. Aber niemand wird sich dem Eindruck verschließen können, <lb n="ple_026.037"/> daß in dieser Selbstschilderung zwar einige Punkte deutlich hervortreten, <lb n="ple_026.038"/> wie die Farbenempfindung vor und während der Konzeption, daß aber der <lb n="ple_026.039"/> Vorgang im ganzen in einem schwankenden Zwielichtbleibt, welches keinen <lb n="ple_026.040"/> klaren Einblick ermöglicht. Soweit man nämlich aus dem Gesagten ein <lb n="ple_026.041"/> Bild gewinnen kann, ergibt sich, daß der Dichter zunächst eine einzelne <lb n="ple_026.042"/> Gestalt oder eine Gruppe, „eine charakteristische Figur in einer pathetischen <lb n="ple_026.043"/> Stellung“ erblickt, die eine Szene der Dichtung darstellt; hieran sollen sich </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [26/0040]
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allmählich klar, wie die Fabel entstand, wobei mein Wille und alle bewußte ple_026.002
Tätigkeit sich ruhig und passiv verhielten.“
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Und im Nachlaß des Dichters I 45 heißt es:
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„Mein Verfahren ist dies: es geht eine Stimmung voraus, eine musikalische, ple_026.005
die wird mir zur Farbe, dann seh' ich Gestalten, eine oder mehrere ple_026.006
in irgend einer Stellung und Gebärdung für sich oder gegeneinander, ple_026.007
und dies wie einen Kupferstich auf Papier von jener Farbe, oder genauer ple_026.008
ausgedrückt, wie eine Marmorstatue oder plastische Gruppe, auf welche ple_026.009
die Sonne durch einen Vorhang fällt, der jene Farbe hat. Wunderlicherweise ple_026.010
ist jenes Bild oder jene Gruppe gewöhnlich nicht das Bild der Katastrophe, ple_026.011
manchmal nur eine charakteristische Figur in irgend einer pathetischen ple_026.012
Stellung; an diese schließt sich aber sogleich eine ganze Reihe, ple_026.013
und vom Stücke erfahr' ich nicht die Fabel, den novellistischen Inhalt ple_026.014
zuerst, sondern bald nach vorwärts, bald nach dem Ende zu von der erst ple_026.015
gesehenen Situation aus, schließen immer neue plastisch-mimische Gestalten ple_026.016
und Gruppen an, bis ich das ganze Stück in allen seinen Szenen habe; ple_026.017
dies alles in großer Hast, wobei mein Bewußtsein ganz leidend sich verhält ple_026.018
und eine Art körperlicher Beängstigung mich in Händen hat. Den ple_026.019
Inhalt aller einzelnen Szenen kann ich mir dann auch in der Reihenfolge ple_026.020
willkürlich reproduzieren; aber den novellistischen Inhalt in eine kurze Erzählung ple_026.021
zu bringen ist mir unmöglich. Nun findet sich zu den Gebärden ple_026.022
auch die Sprache. Ich schreibe auf, was ich aufschreiben kann, aber wenn ple_026.023
mich die Stimmung verläßt, ist mir das Aufgeschriebene nur ein toter Buchstabe. ple_026.024
Nun geb' ich mich daran, die Lücken des Dialogs auszufüllen. ple_026.025
Dazu muß ich das Vorhandene mit kritischen Augen ansehen. Ich suche ple_026.026
die Idee, die der Generalnenner aller dieser Einzelheiten ist, oder wenn ple_026.027
ich so sagen soll, ich suche die Idee, die, mir unbewußt, die schaffende ple_026.028
Kraft und der Zusammenhang der Erscheinungen war; dann such' ich ple_026.029
ebenso die Gelenke der Handlung, um den Kausalnexus mir zu verdeutlichen, ple_026.030
ebenso die psychologischen Gesetze der einzelnen Züge, den vollständigen ple_026.031
Inhalt der Situationen, ich ordne das Verwirrte, und mache nun ple_026.032
meinen Plan, in dem nichts mehr dem bloßen Instinkt angehört, alles Absicht ple_026.033
und Berechnung ist, im ganzen und bis in das einzelne Wort hinein.“
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Man sieht, der Dichter versucht hier bis ins einzelne hinein den Zusammenhang ple_026.035
seines Verfahrens oder richtiger seiner inneren Erlebnisse ple_026.036
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daß in dieser Selbstschilderung zwar einige Punkte deutlich hervortreten, ple_026.038
wie die Farbenempfindung vor und während der Konzeption, daß aber der ple_026.039
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klaren Einblick ermöglicht. Soweit man nämlich aus dem Gesagten ein ple_026.041
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