Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_030.001 ple_030.027 ple_030.001 ple_030.027 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0044" n="30"/><lb n="ple_030.001"/> diese Aufgabe mit einer Einseitigkeit ins Auge gefaßt und verfolgt, <lb n="ple_030.002"/> als ob mit ihr das ganze Wesen der Goetheschen Dichtung beschlossen sei. <lb n="ple_030.003"/> Auf diesem Wege gelangt man zu eigentümlich schiefen und jedenfalls <lb n="ple_030.004"/> sehr unpsychologischen Gleichsetzungen, die uns in der modernen Goetheliteratur <lb n="ple_030.005"/> überall entgegentreten. Ich habe ein paar Beispiele davon im <lb n="ple_030.006"/> Goethejahrbuch 1905 zusammengestellt. „Tasso ist Goethe seiner innersten <lb n="ple_030.007"/> Neigung und Anlage nach; — aber auch Antonio ist Goethe; — Goethe <lb n="ple_030.008"/> hat im Widerstreit der beiden Gestalten, die sich unerbittlich abstoßen, die <lb n="ple_030.009"/> Unverträglichkeit der beiden Rollen dargestellt, zu denen er während der <lb n="ple_030.010"/> zehn Jahre verurteilt war.“ (Hermann Grimm.) „Ich halte für sehr wahrscheinlich <lb n="ple_030.011"/> und stehe mit dieser Meinung nicht allein, daß Orest niemand <lb n="ple_030.012"/> anders ist als Goethe selbst.“ (Scherer.) „Sich und seine Eltern hat <lb n="ple_030.013"/> Goethe unter der Maske Hermanns und des Wirtspaares in der Erscheinung <lb n="ple_030.014"/> von 1775 festgehalten; Lilli unter der Maske Dorotheens noch als <lb n="ple_030.015"/> Jungfrau, aber mit der Reife und dem Schicksale der Revolutionszeit.“ <lb n="ple_030.016"/> (Bielschowsky.) Hermann Grimm sagt einmal: „Seine Fabeln, auch wenn <lb n="ple_030.017"/> sie aus den persönlichsten Erfahrungen entstanden, sind ja niemals bloß <lb n="ple_030.018"/> verhüllte Wiederholungen des Erlebnisses, sondern gestalteten sich, je mehr <lb n="ple_030.019"/> ihr Wachstum sich ausbreitete und abrundete, zu neuen Schöpfungen, deren <lb n="ple_030.020"/> letzte Vollendung eben darin besteht, daß der Charakter des Erlebten, auf <lb n="ple_030.021"/> dem zuerst alles beruhte, zuletzt völlig vernichtet wird.“ Es kann nichts <lb n="ple_030.022"/> Richtigeres geben als diesen Satz — aber wie wenig hat Grimm selber, <lb n="ple_030.023"/> wie wenig haben seine Nachfolger die Konsequenzen daraus gezogen! <lb n="ple_030.024"/> Hat ein großer Dichter wirklich nichts anderes zu tun, als nach dem Rezept <lb n="ple_030.025"/> des Heineschen Schöpfungsliedes: „Ich der Herr kopier mich selber“, sich <lb n="ple_030.026"/> und seine Umgebung immer unter neuen Masken darzustellen?</p> <p><lb n="ple_030.027"/> Wie ist denn eigentlich der „Prozeß der Selbstbefreiung“ zu denken, <lb n="ple_030.028"/> den Goethe im Auge hat? Nur eben darin, daß er ausspricht, was ihn bedrückt, <lb n="ple_030.029"/> ausspricht, wie andere Menschen auch, wenngleich reicher und schöner? <lb n="ple_030.030"/> Aber hierdurch kann er wohl eine augenblickliche Erleichterung, schwerlich <lb n="ple_030.031"/> jedoch dauernde Befreiung erzielen, wie denn auch an der berühmten <lb n="ple_030.032"/> Stelle am Schluß des Tasso Melodie und Rede nur als ein Mittel, den <lb n="ple_030.033"/> tiefsten Schmerz zu klagen, nicht ihn zu überwinden, bezeichnet wird. <lb n="ple_030.034"/> Auch das kann nicht das Entscheidende sein, daß der Dichter etwa fremden <lb n="ple_030.035"/> Personen in den Mund legt, was er selbst empfindet. Vielmehr besteht <lb n="ple_030.036"/> der Vorgang offenbar darin, daß er das, was sein Inneres erregt und erfüllt, <lb n="ple_030.037"/> zu bestimmter Gestaltung formt, eben hierdurch von sich ablöst und <lb n="ple_030.038"/> nunmehr das, was in ihm war, das subjektiv Empfundene, gleichsam als <lb n="ple_030.039"/> ein Fremdgewordenes außer sich objektiv schaut. Durch diese Loslösung <lb n="ple_030.040"/> vom Persönlichen wird zugleich das Individuelle ins Allgemeine, das Einzelne <lb n="ple_030.041"/> und Zufällige zum Typischen erhoben: der spezielle Fall wird allgemein <lb n="ple_030.042"/> und poetisch, wie Goethe zu Eckermann sagt. So ist es verständlich, <lb n="ple_030.043"/> daß der Dichter sich befreit fühlt, sei es, daß er wie sein Prometheus </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [30/0044]
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diese Aufgabe mit einer Einseitigkeit ins Auge gefaßt und verfolgt, ple_030.002
als ob mit ihr das ganze Wesen der Goetheschen Dichtung beschlossen sei. ple_030.003
Auf diesem Wege gelangt man zu eigentümlich schiefen und jedenfalls ple_030.004
sehr unpsychologischen Gleichsetzungen, die uns in der modernen Goetheliteratur ple_030.005
überall entgegentreten. Ich habe ein paar Beispiele davon im ple_030.006
Goethejahrbuch 1905 zusammengestellt. „Tasso ist Goethe seiner innersten ple_030.007
Neigung und Anlage nach; — aber auch Antonio ist Goethe; — Goethe ple_030.008
hat im Widerstreit der beiden Gestalten, die sich unerbittlich abstoßen, die ple_030.009
Unverträglichkeit der beiden Rollen dargestellt, zu denen er während der ple_030.010
zehn Jahre verurteilt war.“ (Hermann Grimm.) „Ich halte für sehr wahrscheinlich ple_030.011
und stehe mit dieser Meinung nicht allein, daß Orest niemand ple_030.012
anders ist als Goethe selbst.“ (Scherer.) „Sich und seine Eltern hat ple_030.013
Goethe unter der Maske Hermanns und des Wirtspaares in der Erscheinung ple_030.014
von 1775 festgehalten; Lilli unter der Maske Dorotheens noch als ple_030.015
Jungfrau, aber mit der Reife und dem Schicksale der Revolutionszeit.“ ple_030.016
(Bielschowsky.) Hermann Grimm sagt einmal: „Seine Fabeln, auch wenn ple_030.017
sie aus den persönlichsten Erfahrungen entstanden, sind ja niemals bloß ple_030.018
verhüllte Wiederholungen des Erlebnisses, sondern gestalteten sich, je mehr ple_030.019
ihr Wachstum sich ausbreitete und abrundete, zu neuen Schöpfungen, deren ple_030.020
letzte Vollendung eben darin besteht, daß der Charakter des Erlebten, auf ple_030.021
dem zuerst alles beruhte, zuletzt völlig vernichtet wird.“ Es kann nichts ple_030.022
Richtigeres geben als diesen Satz — aber wie wenig hat Grimm selber, ple_030.023
wie wenig haben seine Nachfolger die Konsequenzen daraus gezogen! ple_030.024
Hat ein großer Dichter wirklich nichts anderes zu tun, als nach dem Rezept ple_030.025
des Heineschen Schöpfungsliedes: „Ich der Herr kopier mich selber“, sich ple_030.026
und seine Umgebung immer unter neuen Masken darzustellen?
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Wie ist denn eigentlich der „Prozeß der Selbstbefreiung“ zu denken, ple_030.028
den Goethe im Auge hat? Nur eben darin, daß er ausspricht, was ihn bedrückt, ple_030.029
ausspricht, wie andere Menschen auch, wenngleich reicher und schöner? ple_030.030
Aber hierdurch kann er wohl eine augenblickliche Erleichterung, schwerlich ple_030.031
jedoch dauernde Befreiung erzielen, wie denn auch an der berühmten ple_030.032
Stelle am Schluß des Tasso Melodie und Rede nur als ein Mittel, den ple_030.033
tiefsten Schmerz zu klagen, nicht ihn zu überwinden, bezeichnet wird. ple_030.034
Auch das kann nicht das Entscheidende sein, daß der Dichter etwa fremden ple_030.035
Personen in den Mund legt, was er selbst empfindet. Vielmehr besteht ple_030.036
der Vorgang offenbar darin, daß er das, was sein Inneres erregt und erfüllt, ple_030.037
zu bestimmter Gestaltung formt, eben hierdurch von sich ablöst und ple_030.038
nunmehr das, was in ihm war, das subjektiv Empfundene, gleichsam als ple_030.039
ein Fremdgewordenes außer sich objektiv schaut. Durch diese Loslösung ple_030.040
vom Persönlichen wird zugleich das Individuelle ins Allgemeine, das Einzelne ple_030.041
und Zufällige zum Typischen erhoben: der spezielle Fall wird allgemein ple_030.042
und poetisch, wie Goethe zu Eckermann sagt. So ist es verständlich, ple_030.043
daß der Dichter sich befreit fühlt, sei es, daß er wie sein Prometheus
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