Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_032.001 ple_032.025 ple_032.035 ple_032.040 ple_032.001 ple_032.025 ple_032.035 ple_032.040 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0046" n="32"/><lb n="ple_032.001"/> glaubt er die Entstehung der Dichtung zu kennen und damit das psychologische <lb n="ple_032.002"/> Verständnis zu besitzen. Man höre etwa, wie Bielschowsky, Goethes <lb n="ple_032.003"/> Leben, Band II, 374, die Entstehung des Liedes an den Mond beschreibt. <lb n="ple_032.004"/> „Am 16. Januar 1778 hat sich eine junge Dame aus dem Weimarischen <lb n="ple_032.005"/> Hofkreise, Christel von Laßberg, in der Ilm, nahe bei Goethes Gartenhause, <lb n="ple_032.006"/> aus unglücklicher Liebe ertränkt — wie man sagte, mit dem Werther <lb n="ple_032.007"/> in der Tasche. Goethe war tief ergriffen von diesem Fall und war ,einige <lb n="ple_032.008"/> Tage in stiller Trauer um die Szene des Todes beschäftigt'. Seine Gedanken <lb n="ple_032.009"/> halten sein sonst bewegliches, glühendes Herz wie ein Gespenst <lb n="ple_032.010"/> an den Fluß gebannt. Ein Druck liegt wochenlang auf ihm. Er verstärkt <lb n="ple_032.011"/> sich, da Frau von Stein sich vor ihm verschließt. Aber bei Beginn des <lb n="ple_032.012"/> neuen Monats wendet die Geliebte sich ihm wieder zu, und in ihrem Besitze <lb n="ple_032.013"/> glücklich, bemerkt er gern seine ,fortdauernde, reine Entfremdung <lb n="ple_032.014"/> von den Menschen'. Ein Spaziergang mit ihr im Mondenscheine vollendet <lb n="ple_032.015"/> diese schöne reine Stimmung, seine Seele fühlt sich endlich wieder <lb n="ple_032.016"/> ganz befreit von dem Druck und der Spannung der letzten Wochen. Die <lb n="ple_032.017"/> ersten vier Strophen des Mondliedes in seiner ursprünglichen Gestalt kristallisieren <lb n="ple_032.018"/> sich. Es vergehen wieder einige Tage. Am 22. Februar besucht <lb n="ple_032.019"/> ihn Plessing, der sich ,Menschenhaß aus der Fülle der Liebe trank', und <lb n="ple_032.020"/> in erbitterter Entfremdung verborgen lebt. Damit sind auch die letzten <lb n="ple_032.021"/> Strophen gewonnen, die der Dichter an Plessing, an Frau von Stein und <lb n="ple_032.022"/> an sich selbst gerichtet. Sie lenken zugleich wieder zu Christel von Laßberg <lb n="ple_032.023"/> zurück, der es nicht vergönnt war, mit einem Manne das Beste des <lb n="ple_032.024"/> Lebens zu genießen.“</p> <p><lb n="ple_032.025"/> Man sieht, die Entstehung des Gedichts erscheint in dieser (übrigens <lb n="ple_032.026"/> völlig hypothetischen) Schilderung als ein rein assoziativer Prozeß und die <lb n="ple_032.027"/> Phantasie des Dichters als ein passives Medium, durch das die Erlebnisse <lb n="ple_032.028"/> hindurch gehen, um künstlerische Form zu gewinnen. Dementsprechend <lb n="ple_032.029"/> wäre die Dichtung selbst ein wesentlich assoziatives Gebilde, in dem sich <lb n="ple_032.030"/> innere und äußere Erlebnisse aneinander reihen. Tatsächlich gibt es nun <lb n="ple_032.031"/> auch Gedichte, auf die diese Bestimmung paßt. Abgesehen von manchen <lb n="ple_032.032"/> Produkten der modernen Lyrik, ist <hi rendition="#g">Wanderers Sturmlied</hi> ein Muster <lb n="ple_032.033"/> dieser Gattung. Goethe selbst bezeichnet es als „Halbunsinn“ und beschreibt <lb n="ple_032.034"/> seine Entstehung folgendermaßen:</p> <p><lb n="ple_032.035"/> „Unterwegs sang ich mir seltsame Hymnen und Dithyramben, wovon <lb n="ple_032.036"/> noch eine unter dem Titel ,Wanderers Sturmlied' übrig ist. Ich sang diesen <lb n="ple_032.037"/> Halbunsinn leidenschaftlich vor mich hin, da mich ein schreckliches Wetter <lb n="ple_032.038"/> unterwegs traf, dem ich entgegengehen mußte.“ (Dichtung und Wahrheit, <lb n="ple_032.039"/> Buch XII.)</p> <p><lb n="ple_032.040"/> Aber gerade dieses Gedicht und das Urteil des Dichters darüber zeigt <lb n="ple_032.041"/> deutlich, wie weit der Abstand zwischen einer Improvisation dieser Art und <lb n="ple_032.042"/> einem wirklichen Kunstwerk ist. Denn ein solches ist, wie schon der <lb n="ple_032.043"/> Name sagt, stets das Werk des Könnens und des Wollens. Jede Dichtung </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [32/0046]
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glaubt er die Entstehung der Dichtung zu kennen und damit das psychologische ple_032.002
Verständnis zu besitzen. Man höre etwa, wie Bielschowsky, Goethes ple_032.003
Leben, Band II, 374, die Entstehung des Liedes an den Mond beschreibt. ple_032.004
„Am 16. Januar 1778 hat sich eine junge Dame aus dem Weimarischen ple_032.005
Hofkreise, Christel von Laßberg, in der Ilm, nahe bei Goethes Gartenhause, ple_032.006
aus unglücklicher Liebe ertränkt — wie man sagte, mit dem Werther ple_032.007
in der Tasche. Goethe war tief ergriffen von diesem Fall und war ,einige ple_032.008
Tage in stiller Trauer um die Szene des Todes beschäftigt'. Seine Gedanken ple_032.009
halten sein sonst bewegliches, glühendes Herz wie ein Gespenst ple_032.010
an den Fluß gebannt. Ein Druck liegt wochenlang auf ihm. Er verstärkt ple_032.011
sich, da Frau von Stein sich vor ihm verschließt. Aber bei Beginn des ple_032.012
neuen Monats wendet die Geliebte sich ihm wieder zu, und in ihrem Besitze ple_032.013
glücklich, bemerkt er gern seine ,fortdauernde, reine Entfremdung ple_032.014
von den Menschen'. Ein Spaziergang mit ihr im Mondenscheine vollendet ple_032.015
diese schöne reine Stimmung, seine Seele fühlt sich endlich wieder ple_032.016
ganz befreit von dem Druck und der Spannung der letzten Wochen. Die ple_032.017
ersten vier Strophen des Mondliedes in seiner ursprünglichen Gestalt kristallisieren ple_032.018
sich. Es vergehen wieder einige Tage. Am 22. Februar besucht ple_032.019
ihn Plessing, der sich ,Menschenhaß aus der Fülle der Liebe trank', und ple_032.020
in erbitterter Entfremdung verborgen lebt. Damit sind auch die letzten ple_032.021
Strophen gewonnen, die der Dichter an Plessing, an Frau von Stein und ple_032.022
an sich selbst gerichtet. Sie lenken zugleich wieder zu Christel von Laßberg ple_032.023
zurück, der es nicht vergönnt war, mit einem Manne das Beste des ple_032.024
Lebens zu genießen.“
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Man sieht, die Entstehung des Gedichts erscheint in dieser (übrigens ple_032.026
völlig hypothetischen) Schilderung als ein rein assoziativer Prozeß und die ple_032.027
Phantasie des Dichters als ein passives Medium, durch das die Erlebnisse ple_032.028
hindurch gehen, um künstlerische Form zu gewinnen. Dementsprechend ple_032.029
wäre die Dichtung selbst ein wesentlich assoziatives Gebilde, in dem sich ple_032.030
innere und äußere Erlebnisse aneinander reihen. Tatsächlich gibt es nun ple_032.031
auch Gedichte, auf die diese Bestimmung paßt. Abgesehen von manchen ple_032.032
Produkten der modernen Lyrik, ist Wanderers Sturmlied ein Muster ple_032.033
dieser Gattung. Goethe selbst bezeichnet es als „Halbunsinn“ und beschreibt ple_032.034
seine Entstehung folgendermaßen:
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„Unterwegs sang ich mir seltsame Hymnen und Dithyramben, wovon ple_032.036
noch eine unter dem Titel ,Wanderers Sturmlied' übrig ist. Ich sang diesen ple_032.037
Halbunsinn leidenschaftlich vor mich hin, da mich ein schreckliches Wetter ple_032.038
unterwegs traf, dem ich entgegengehen mußte.“ (Dichtung und Wahrheit, ple_032.039
Buch XII.)
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Aber gerade dieses Gedicht und das Urteil des Dichters darüber zeigt ple_032.041
deutlich, wie weit der Abstand zwischen einer Improvisation dieser Art und ple_032.042
einem wirklichen Kunstwerk ist. Denn ein solches ist, wie schon der ple_032.043
Name sagt, stets das Werk des Könnens und des Wollens. Jede Dichtung
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