Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_047.001 ple_047.008 ple_047.020 ple_047.001 ple_047.008 ple_047.020 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0061" n="47"/><lb n="ple_047.001"/> will, und weder die Kenntnis der Stoffe noch die der Gedanken <lb n="ple_047.002"/> und Empfindungen vermittelt uns dieses Wesen. Erst da tritt es zutage, <lb n="ple_047.003"/> wo der Inhalt unter dem befremdenden Einfluß der Phantasie eine organische <lb n="ple_047.004"/> <hi rendition="#g">Form</hi> aus sich heraus treibt und sich eben hierdurch zum Kunstwerk <lb n="ple_047.005"/> gestaltet. Was der Dichter empfindet, empfinden viele, was er denkt, <lb n="ple_047.006"/> denken auch andere: daß er <hi rendition="#g">gestalten</hi> kann, was er fühlt und denkt, <lb n="ple_047.007"/> macht den Künstler.</p> <p><lb n="ple_047.008"/> Der geringste Erkenntniswert für die Poetik kommt daher auch der <lb n="ple_047.009"/> <hi rendition="#g">Betrachtung des Stoffes</hi> zu. Denn das ästhetische Interesse richtet sich <lb n="ple_047.010"/> niemals auf den Stoff als solchen, sondern nur auf die Frage, was hat der <lb n="ple_047.011"/> Künstler daraus gemacht? Um diese Frage zu beantworten, bedarf es freilich <lb n="ple_047.012"/> des Vergleichs zwischen dem Rohstoff und der künstlerischen Gestaltung. <lb n="ple_047.013"/> Aber jede Verallgemeinerung betrifft offenbar nur diese, nicht jenen; sie <lb n="ple_047.014"/> fällt somit schon in das Gebiet der inneren oder äußeren Formgebung, <lb n="ple_047.015"/> und nur soweit kann der Charakter der verschiedenen Stoffe unter allgemeinen <lb n="ple_047.016"/> technischen Gesichtspunkten in Betracht kommen, als es sich <lb n="ple_047.017"/> um die Frage handelt, ob er sich mehr für die eine oder die andere Behandlungsart <lb n="ple_047.018"/> eigne, oder auch für die künstlerische Behandlung überhaupt <lb n="ple_047.019"/> geeignet oder ungeeignet sei.</p> <p><lb n="ple_047.020"/> Die moderne Literaturgeschichte freilich hat eine besondere Vorliebe <lb n="ple_047.021"/> dafür, die Stoffe der Poesie vergleichend und geschichtlich zu behandeln. <lb n="ple_047.022"/> Sie löst den dichterischen Gegenstand in Grundbestandteile, <hi rendition="#g">Motive,</hi> auf <lb n="ple_047.023"/> und verfolgt die Wiederkehr dieser Motive mit philologischem Sammeleifer <lb n="ple_047.024"/> in den Schöpfungen verschiedener Dichter und Literaturen. Allein man <lb n="ple_047.025"/> kann nicht sagen, daß die emsig betriebene Arbeit besonders gewinnbringend <lb n="ple_047.026"/> gewesen ist. Was die Vergleichung der Stoffe im besten Falle <lb n="ple_047.027"/> leisten kann, sind Fingerzeige, die auf Zusammenhänge zwischen verschiedenen <lb n="ple_047.028"/> Dichtern hinweisen. Aber wo diese Zusammenhänge überhaupt <lb n="ple_047.029"/> zweifellos und wesentlich sind, da erstrecken sie sich zumeist weit über <lb n="ple_047.030"/> die Entlehnung einzelner Motive, ja des Stoffes überhaupt hinaus auf die <lb n="ple_047.031"/> Gesamtgestaltung des Kunstwerks; und wo das nicht der Fall ist, da kann <lb n="ple_047.032"/> die Ähnlichkeit des Motivs den Literarhistoriker leicht irre führen, und zwar <lb n="ple_047.033"/> desto leichter, je allgemeiner es gefaßt wird. Denn das eine sollte man bei <lb n="ple_047.034"/> demganzen Verfahren nicht vergessen, daß das <hi rendition="#g">Motiv</hi> als solches nichts als <lb n="ple_047.035"/> eine Abstraktion ist. Der Dichter geht ja nicht von der allgemeinen Vorstellung <lb n="ple_047.036"/> etwa eines Bruderzwistes oder eines Verbrechens aus Ehrgeiz aus, <lb n="ple_047.037"/> sondern von der besonderen und weit reicheren Anschauung der feindlichen <lb n="ple_047.038"/> Brüder im Fürstenhause von Messina oder der Tat Wallensteins oder <lb n="ple_047.039"/> Macbeths. Ein entlegenes, ja ausgefallenes Motiv tritt uns bisweilen in <lb n="ple_047.040"/> verschiedenen Literaturen entgegen, wo jeder Zusammenhang ausgeschlossen <lb n="ple_047.041"/> ist, wie z. B. die Blutschande im König Ödipus und in Hartmans Gregorius <lb n="ple_047.042"/> auf dem Stein. Aber auch da, wo Zusammenhänge vorliegen, sind sie <lb n="ple_047.043"/> keineswegs immer so unmittelbar, wie der bloße Vergleich des Motivs zu </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [47/0061]
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will, und weder die Kenntnis der Stoffe noch die der Gedanken ple_047.002
und Empfindungen vermittelt uns dieses Wesen. Erst da tritt es zutage, ple_047.003
wo der Inhalt unter dem befremdenden Einfluß der Phantasie eine organische ple_047.004
Form aus sich heraus treibt und sich eben hierdurch zum Kunstwerk ple_047.005
gestaltet. Was der Dichter empfindet, empfinden viele, was er denkt, ple_047.006
denken auch andere: daß er gestalten kann, was er fühlt und denkt, ple_047.007
macht den Künstler.
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Der geringste Erkenntniswert für die Poetik kommt daher auch der ple_047.009
Betrachtung des Stoffes zu. Denn das ästhetische Interesse richtet sich ple_047.010
niemals auf den Stoff als solchen, sondern nur auf die Frage, was hat der ple_047.011
Künstler daraus gemacht? Um diese Frage zu beantworten, bedarf es freilich ple_047.012
des Vergleichs zwischen dem Rohstoff und der künstlerischen Gestaltung. ple_047.013
Aber jede Verallgemeinerung betrifft offenbar nur diese, nicht jenen; sie ple_047.014
fällt somit schon in das Gebiet der inneren oder äußeren Formgebung, ple_047.015
und nur soweit kann der Charakter der verschiedenen Stoffe unter allgemeinen ple_047.016
technischen Gesichtspunkten in Betracht kommen, als es sich ple_047.017
um die Frage handelt, ob er sich mehr für die eine oder die andere Behandlungsart ple_047.018
eigne, oder auch für die künstlerische Behandlung überhaupt ple_047.019
geeignet oder ungeeignet sei.
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Die moderne Literaturgeschichte freilich hat eine besondere Vorliebe ple_047.021
dafür, die Stoffe der Poesie vergleichend und geschichtlich zu behandeln. ple_047.022
Sie löst den dichterischen Gegenstand in Grundbestandteile, Motive, auf ple_047.023
und verfolgt die Wiederkehr dieser Motive mit philologischem Sammeleifer ple_047.024
in den Schöpfungen verschiedener Dichter und Literaturen. Allein man ple_047.025
kann nicht sagen, daß die emsig betriebene Arbeit besonders gewinnbringend ple_047.026
gewesen ist. Was die Vergleichung der Stoffe im besten Falle ple_047.027
leisten kann, sind Fingerzeige, die auf Zusammenhänge zwischen verschiedenen ple_047.028
Dichtern hinweisen. Aber wo diese Zusammenhänge überhaupt ple_047.029
zweifellos und wesentlich sind, da erstrecken sie sich zumeist weit über ple_047.030
die Entlehnung einzelner Motive, ja des Stoffes überhaupt hinaus auf die ple_047.031
Gesamtgestaltung des Kunstwerks; und wo das nicht der Fall ist, da kann ple_047.032
die Ähnlichkeit des Motivs den Literarhistoriker leicht irre führen, und zwar ple_047.033
desto leichter, je allgemeiner es gefaßt wird. Denn das eine sollte man bei ple_047.034
demganzen Verfahren nicht vergessen, daß das Motiv als solches nichts als ple_047.035
eine Abstraktion ist. Der Dichter geht ja nicht von der allgemeinen Vorstellung ple_047.036
etwa eines Bruderzwistes oder eines Verbrechens aus Ehrgeiz aus, ple_047.037
sondern von der besonderen und weit reicheren Anschauung der feindlichen ple_047.038
Brüder im Fürstenhause von Messina oder der Tat Wallensteins oder ple_047.039
Macbeths. Ein entlegenes, ja ausgefallenes Motiv tritt uns bisweilen in ple_047.040
verschiedenen Literaturen entgegen, wo jeder Zusammenhang ausgeschlossen ple_047.041
ist, wie z. B. die Blutschande im König Ödipus und in Hartmans Gregorius ple_047.042
auf dem Stein. Aber auch da, wo Zusammenhänge vorliegen, sind sie ple_047.043
keineswegs immer so unmittelbar, wie der bloße Vergleich des Motivs zu
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