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Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.

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der mit und in seinem Volke lebt, erlebt in sich das, was Zeit und Volk ple_046.002
bewegt. Er erlebt es stärker und inniger, eben weil sein Gefühl tiefer ple_046.003
und kraftvoller ist als das seiner Mitmenschen, und er bringt es zum ple_046.004
klareren Ausdruck, als diese es vermögen, weil ihm die Gewalt der Sprache ple_046.005
verliehen ist, die Gabe, das in Worte zu fassen, was sie nur dunkel fühlen. ple_046.006
Daher ist es gewiß eine große und lohnende Aufgabe, der Empfindungsweise ple_046.007
und der Gedankenwelt der Dichter verschiedener Epochen nachzugehen, ple_046.008
die charakteristischen Richtungen ihres Gefühlslebens, die bedeutendsten ple_046.009
und lebenskräftigsten Ideen, die sie bewegen, herauszuheben ple_046.010
und ihren Weg durch die Poesie der verschiedenen Epochen und Völker ple_046.011
hindurch zu verfolgen, weit fruchtbarer als jenes vergleichende Verfolgen ple_046.012
der Stoffe und Motive jemals werden kann. Denn hier treten wirkliche ple_046.013
Zusammenhänge innerer Natur zutage. Die großen Ideen der Menschheit ple_046.014
zeigen sich in ihrer Lebenskraft, die ewigen Gefühle, um ein Goethesches ple_046.015
Wort zu gebrauchen, in ihren zeitlichen Erscheinungsformen und in ihrer ple_046.016
zeitlosen Dauer. Doch kommt das, was hierdurch geleistet wird, offenbar ple_046.017
mehr der allgemeinen Geistesgeschichte als der eigentlich künstlerischen ple_046.018
Betrachtung oder der ästhetischen Einsicht zugute. Es wäre gewiß zu ple_046.019
wünschen, daß die leider noch spärlichen Untersuchungen dieser Art häufiger ple_046.020
würden, und daß sich allmählich tiefer eindringende und sicherere ple_046.021
psychologische Methoden herausbildeten: ein weites Feld eröffnet sich hier. ple_046.022
Wirklich wissenschaftliche Untersuchungen über die geschichtlichen Formen ple_046.023
der Liebe oder der Freundschaft und manches ähnliche bleiben eine dringliche ple_046.024
und lohnende Aufgabe.1) Aber es ist klar, daß alle solche Arbeiten ple_046.025
die Dichtung nur als Quelle benutzen und, selbst wenn sie ausschließlich ple_046.026
aus dieser Quelle schöpfen, nicht für das künstlerische Verständnis selbst ple_046.027
arbeiten. Sie stehen ganz auf derselben Linie wie etwa die vergleichende ple_046.028
Religionsgeschichte, die ja auch die Poesie als eine Hauptquelle heranziehen ple_046.029
muß. Das Fühlen und Denken des Dichters erscheint hier nur als ple_046.030
der zugänglichste und faßbarste Typus des allgemein menschlichen oder ple_046.031
auch nationalen Denkens und Empfindens, das aus keiner anderen Quelle ple_046.032
mit gleicher Sicherheit erschlossen werden kann. Daher werden solche ple_046.033
Untersuchungen Typen des Seelenlebens und der geistigen Bewegung feststellen ple_046.034
können, nicht aber Typen und Gesetze der Dichtung. Die Poetik ple_046.035
wird ihre Ergebnisse im einzelnen heranziehen und benutzen, aber zu ple_046.036
ihren eigenen Aufgaben gehört weder die geschichtliche Behandlung noch ple_046.037
die systematische Klassifizierung solcher Ideen und Empfindungen. Das ple_046.038
Wesen der Poesie wie jeder Kunst liegt nicht in den Inhalten, die sie überliefern

1) ple_046.039
Einen Ansatz dazu bilden z. B. die Untersuchungen über die geschichtliche Entwickelung ple_046.040
des Naturgefühls, wie sie sich in Jak. Burkhardts Kultur der Renaissance (4. Abschn. ple_046.041
Kap. 3) und in Friedlaenders Sittengeschichte Roms (Bd. I Kap. 1) finden. In zusammentragender ple_046.042
Darstellung hat Alfr. Biese die Entwickelung des Naturgefühls im ple_046.043
Mittelalter und der Neuzeit (Leipzig 1888) gebracht.

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der mit und in seinem Volke lebt, erlebt in sich das, was Zeit und Volk ple_046.002
bewegt. Er erlebt es stärker und inniger, eben weil sein Gefühl tiefer ple_046.003
und kraftvoller ist als das seiner Mitmenschen, und er bringt es zum ple_046.004
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Betrachtung oder der ästhetischen Einsicht zugute. Es wäre gewiß zu ple_046.019
wünschen, daß die leider noch spärlichen Untersuchungen dieser Art häufiger ple_046.020
würden, und daß sich allmählich tiefer eindringende und sicherere ple_046.021
psychologische Methoden herausbildeten: ein weites Feld eröffnet sich hier. ple_046.022
Wirklich wissenschaftliche Untersuchungen über die geschichtlichen Formen ple_046.023
der Liebe oder der Freundschaft und manches ähnliche bleiben eine dringliche ple_046.024
und lohnende Aufgabe.1) Aber es ist klar, daß alle solche Arbeiten ple_046.025
die Dichtung nur als Quelle benutzen und, selbst wenn sie ausschließlich ple_046.026
aus dieser Quelle schöpfen, nicht für das künstlerische Verständnis selbst ple_046.027
arbeiten. Sie stehen ganz auf derselben Linie wie etwa die vergleichende ple_046.028
Religionsgeschichte, die ja auch die Poesie als eine Hauptquelle heranziehen ple_046.029
muß. Das Fühlen und Denken des Dichters erscheint hier nur als ple_046.030
der zugänglichste und faßbarste Typus des allgemein menschlichen oder ple_046.031
auch nationalen Denkens und Empfindens, das aus keiner anderen Quelle ple_046.032
mit gleicher Sicherheit erschlossen werden kann. Daher werden solche ple_046.033
Untersuchungen Typen des Seelenlebens und der geistigen Bewegung feststellen ple_046.034
können, nicht aber Typen und Gesetze der Dichtung. Die Poetik ple_046.035
wird ihre Ergebnisse im einzelnen heranziehen und benutzen, aber zu ple_046.036
ihren eigenen Aufgaben gehört weder die geschichtliche Behandlung noch ple_046.037
die systematische Klassifizierung solcher Ideen und Empfindungen. Das ple_046.038
Wesen der Poesie wie jeder Kunst liegt nicht in den Inhalten, die sie überliefern

1) ple_046.039
Einen Ansatz dazu bilden z. B. die Untersuchungen über die geschichtliche Entwickelung ple_046.040
des Naturgefühls, wie sie sich in Jak. Burkhardts Kultur der Renaissance (4. Abschn. ple_046.041
Kap. 3) und in Friedlaenders Sittengeschichte Roms (Bd. I Kap. 1) finden. In zusammentragender ple_046.042
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[46/0060] ple_046.001 der mit und in seinem Volke lebt, erlebt in sich das, was Zeit und Volk ple_046.002 bewegt. Er erlebt es stärker und inniger, eben weil sein Gefühl tiefer ple_046.003 und kraftvoller ist als das seiner Mitmenschen, und er bringt es zum ple_046.004 klareren Ausdruck, als diese es vermögen, weil ihm die Gewalt der Sprache ple_046.005 verliehen ist, die Gabe, das in Worte zu fassen, was sie nur dunkel fühlen. ple_046.006 Daher ist es gewiß eine große und lohnende Aufgabe, der Empfindungsweise ple_046.007 und der Gedankenwelt der Dichter verschiedener Epochen nachzugehen, ple_046.008 die charakteristischen Richtungen ihres Gefühlslebens, die bedeutendsten ple_046.009 und lebenskräftigsten Ideen, die sie bewegen, herauszuheben ple_046.010 und ihren Weg durch die Poesie der verschiedenen Epochen und Völker ple_046.011 hindurch zu verfolgen, weit fruchtbarer als jenes vergleichende Verfolgen ple_046.012 der Stoffe und Motive jemals werden kann. Denn hier treten wirkliche ple_046.013 Zusammenhänge innerer Natur zutage. Die großen Ideen der Menschheit ple_046.014 zeigen sich in ihrer Lebenskraft, die ewigen Gefühle, um ein Goethesches ple_046.015 Wort zu gebrauchen, in ihren zeitlichen Erscheinungsformen und in ihrer ple_046.016 zeitlosen Dauer. Doch kommt das, was hierdurch geleistet wird, offenbar ple_046.017 mehr der allgemeinen Geistesgeschichte als der eigentlich künstlerischen ple_046.018 Betrachtung oder der ästhetischen Einsicht zugute. Es wäre gewiß zu ple_046.019 wünschen, daß die leider noch spärlichen Untersuchungen dieser Art häufiger ple_046.020 würden, und daß sich allmählich tiefer eindringende und sicherere ple_046.021 psychologische Methoden herausbildeten: ein weites Feld eröffnet sich hier. ple_046.022 Wirklich wissenschaftliche Untersuchungen über die geschichtlichen Formen ple_046.023 der Liebe oder der Freundschaft und manches ähnliche bleiben eine dringliche ple_046.024 und lohnende Aufgabe. 1) Aber es ist klar, daß alle solche Arbeiten ple_046.025 die Dichtung nur als Quelle benutzen und, selbst wenn sie ausschließlich ple_046.026 aus dieser Quelle schöpfen, nicht für das künstlerische Verständnis selbst ple_046.027 arbeiten. Sie stehen ganz auf derselben Linie wie etwa die vergleichende ple_046.028 Religionsgeschichte, die ja auch die Poesie als eine Hauptquelle heranziehen ple_046.029 muß. Das Fühlen und Denken des Dichters erscheint hier nur als ple_046.030 der zugänglichste und faßbarste Typus des allgemein menschlichen oder ple_046.031 auch nationalen Denkens und Empfindens, das aus keiner anderen Quelle ple_046.032 mit gleicher Sicherheit erschlossen werden kann. Daher werden solche ple_046.033 Untersuchungen Typen des Seelenlebens und der geistigen Bewegung feststellen ple_046.034 können, nicht aber Typen und Gesetze der Dichtung. Die Poetik ple_046.035 wird ihre Ergebnisse im einzelnen heranziehen und benutzen, aber zu ple_046.036 ihren eigenen Aufgaben gehört weder die geschichtliche Behandlung noch ple_046.037 die systematische Klassifizierung solcher Ideen und Empfindungen. Das ple_046.038 Wesen der Poesie wie jeder Kunst liegt nicht in den Inhalten, die sie überliefern 1) ple_046.039 Einen Ansatz dazu bilden z. B. die Untersuchungen über die geschichtliche Entwickelung ple_046.040 des Naturgefühls, wie sie sich in Jak. Burkhardts Kultur der Renaissance (4. Abschn. ple_046.041 Kap. 3) und in Friedlaenders Sittengeschichte Roms (Bd. I Kap. 1) finden. In zusammentragender ple_046.042 Darstellung hat Alfr. Biese die Entwickelung des Naturgefühls im ple_046.043 Mittelalter und der Neuzeit (Leipzig 1888) gebracht.

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Zitationshilfe: Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908, S. 46. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lehmann_poetik_1908/60>, abgerufen am 24.11.2024.