Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_051.001 ple_051.003 ple_051.023 ple_051.041 ple_051.001 ple_051.003 ple_051.023 ple_051.041 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0065" n="51"/><lb n="ple_051.001"/> einen Seite die psychologische Erkenntnis des dichterischen Schaffens, auf <lb n="ple_051.002"/> der anderen Seite das ästhetische Verständnis des Kunstwerks.</p> <p><lb n="ple_051.003"/> Der ersteren entspricht die <hi rendition="#g">genetische</hi> Erklärung, der es vor allem <lb n="ple_051.004"/> um die Persönlichkeit des Dichters zu tun ist. Sie faßt das Gedicht in <lb n="ple_051.005"/> seiner Entstehung als ein innerliches Erlebnis des Dichters, als einen <lb n="ple_051.006"/> Prozeß, in welchem seine Wesenseigentümlichkeit zutage tritt. Der Zusammenhang <lb n="ple_051.007"/> zwischen diesem und den übrigen Erlebnissen des Dichters, <lb n="ple_051.008"/> inneren und äußeren, ist für sie das Hauptproblem, und ihr Ziel ist erreicht, <lb n="ple_051.009"/> wenn es ihr gelungen ist, die Bestandteile der Dichtung in den Komplex von <lb n="ple_051.010"/> Anlagen, Zuständen und Funktionen einzureihen, die für uns die Gesamtpersönlichkeit <lb n="ple_051.011"/> des Dichters darstellen. Daher bietet auch Goethe mit seinen <lb n="ple_051.012"/> Schöpfungen das Lieblingsfeld für ihre Arbeit, weil es hier in der Tat <lb n="ple_051.013"/> leichter und in weiterem Umfange möglich ist, diese Aufgabe zu lösen als <lb n="ple_051.014"/> bei den meisten übrigen Dichtern der Weltliteratur. Man erklärt also den <lb n="ple_051.015"/> Tasso, die Iphigenie oder das Lied an den Mond, indem man für die <lb n="ple_051.016"/> einzelnen Motive, für die Personen, Zustände und Stimmungen die persönlichen <lb n="ple_051.017"/> Beziehungen aufsucht, die sie mit dem Leben des Dichters verbinden, <lb n="ple_051.018"/> und man will die Schwierigkeiten, welche das objektive Verständnis <lb n="ple_051.019"/> dieser Dichtungen darbietet, heben, indem man auf Analogien im Leben <lb n="ple_051.020"/> des Dichters hinweist. So wird etwa die Heilung des Orest durch das Verhältnis <lb n="ple_051.021"/> Goethes zu Frau von Stein erklärt, die Krankheit Tassos durch die <lb n="ple_051.022"/> Beziehung auf Lenz und ähnliches.</p> <p><lb n="ple_051.023"/> Kein Zweifel, daß das Ziel, das hier erstrebt wird, erstrebenswert ist. <lb n="ple_051.024"/> So gewiß es der Mühe lohnt, einer großen schöpferischen Persönlichkeit <lb n="ple_051.025"/> menschlich näher zu treten, indem man sie gleichsam von innen anschaut, <lb n="ple_051.026"/> sie wissenschaftlich zu erkennen, indem man den Gesetzen ihres Seelenlebens <lb n="ple_051.027"/> nachgeht, so gewiß ist es auch ein erstrebenswertes Ziel, den <lb n="ple_051.028"/> Künstler im Kunstwerk zu suchen, und das Kunstwerk aus der Persönlichkeit <lb n="ple_051.029"/> des Künstlers abzuleiten. Aber daneben gibt es noch eine völlig <lb n="ple_051.030"/> andere, nicht minder berechtigte Art, sich der Dichtung zu nähern. Sie <lb n="ple_051.031"/> faßt das Kunstwerk wie ein Stück Wirklichkeit, das seine Lebensgesetze <lb n="ple_051.032"/> in sich selbst trägt und nach diesen Gesetzen erkannt und erklärt werden <lb n="ple_051.033"/> soll. Dies ist es, was wir <hi rendition="#g">künstlerisches</hi> Verständnis nennen. Für dieses <lb n="ple_051.034"/> Verständnis verschlägt es nichts, daß wir von den Liebesliedern der Sappho <lb n="ple_051.035"/> nicht wissen, an wen sie gerichtet sind, von den Lebensumständen und <lb n="ple_051.036"/> dem Charakter der Dichter des Parzival, des Tristan kaum das Alleräußerlichste <lb n="ple_051.037"/> kennen. Und um die Heilung des Orest in diesem Sinne zu verstehen, <lb n="ple_051.038"/> brauchen und wollen wir nicht auf die persönlichen Verhältnisse <lb n="ple_051.039"/> Goethes zurückgreifen: was da auf der Bühne vor sich geht, ist ein Stück <lb n="ple_051.040"/> Leben, das wir aus sich selbst verstehen müssen, wenn es anders Leben ist.</p> <p><lb n="ple_051.041"/> So stehen die Ziele deutlich und gesondert nebeneinander, sich gegenseitig <lb n="ple_051.042"/> ergänzend zu einem wissenschaftlich-künstlerischen Gesamtverständnis <lb n="ple_051.043"/> dichterischer Erscheinungen. In streng wissenschaftlichem Sinne hat die </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [51/0065]
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einen Seite die psychologische Erkenntnis des dichterischen Schaffens, auf ple_051.002
der anderen Seite das ästhetische Verständnis des Kunstwerks.
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Der ersteren entspricht die genetische Erklärung, der es vor allem ple_051.004
um die Persönlichkeit des Dichters zu tun ist. Sie faßt das Gedicht in ple_051.005
seiner Entstehung als ein innerliches Erlebnis des Dichters, als einen ple_051.006
Prozeß, in welchem seine Wesenseigentümlichkeit zutage tritt. Der Zusammenhang ple_051.007
zwischen diesem und den übrigen Erlebnissen des Dichters, ple_051.008
inneren und äußeren, ist für sie das Hauptproblem, und ihr Ziel ist erreicht, ple_051.009
wenn es ihr gelungen ist, die Bestandteile der Dichtung in den Komplex von ple_051.010
Anlagen, Zuständen und Funktionen einzureihen, die für uns die Gesamtpersönlichkeit ple_051.011
des Dichters darstellen. Daher bietet auch Goethe mit seinen ple_051.012
Schöpfungen das Lieblingsfeld für ihre Arbeit, weil es hier in der Tat ple_051.013
leichter und in weiterem Umfange möglich ist, diese Aufgabe zu lösen als ple_051.014
bei den meisten übrigen Dichtern der Weltliteratur. Man erklärt also den ple_051.015
Tasso, die Iphigenie oder das Lied an den Mond, indem man für die ple_051.016
einzelnen Motive, für die Personen, Zustände und Stimmungen die persönlichen ple_051.017
Beziehungen aufsucht, die sie mit dem Leben des Dichters verbinden, ple_051.018
und man will die Schwierigkeiten, welche das objektive Verständnis ple_051.019
dieser Dichtungen darbietet, heben, indem man auf Analogien im Leben ple_051.020
des Dichters hinweist. So wird etwa die Heilung des Orest durch das Verhältnis ple_051.021
Goethes zu Frau von Stein erklärt, die Krankheit Tassos durch die ple_051.022
Beziehung auf Lenz und ähnliches.
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Kein Zweifel, daß das Ziel, das hier erstrebt wird, erstrebenswert ist. ple_051.024
So gewiß es der Mühe lohnt, einer großen schöpferischen Persönlichkeit ple_051.025
menschlich näher zu treten, indem man sie gleichsam von innen anschaut, ple_051.026
sie wissenschaftlich zu erkennen, indem man den Gesetzen ihres Seelenlebens ple_051.027
nachgeht, so gewiß ist es auch ein erstrebenswertes Ziel, den ple_051.028
Künstler im Kunstwerk zu suchen, und das Kunstwerk aus der Persönlichkeit ple_051.029
des Künstlers abzuleiten. Aber daneben gibt es noch eine völlig ple_051.030
andere, nicht minder berechtigte Art, sich der Dichtung zu nähern. Sie ple_051.031
faßt das Kunstwerk wie ein Stück Wirklichkeit, das seine Lebensgesetze ple_051.032
in sich selbst trägt und nach diesen Gesetzen erkannt und erklärt werden ple_051.033
soll. Dies ist es, was wir künstlerisches Verständnis nennen. Für dieses ple_051.034
Verständnis verschlägt es nichts, daß wir von den Liebesliedern der Sappho ple_051.035
nicht wissen, an wen sie gerichtet sind, von den Lebensumständen und ple_051.036
dem Charakter der Dichter des Parzival, des Tristan kaum das Alleräußerlichste ple_051.037
kennen. Und um die Heilung des Orest in diesem Sinne zu verstehen, ple_051.038
brauchen und wollen wir nicht auf die persönlichen Verhältnisse ple_051.039
Goethes zurückgreifen: was da auf der Bühne vor sich geht, ist ein Stück ple_051.040
Leben, das wir aus sich selbst verstehen müssen, wenn es anders Leben ist.
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So stehen die Ziele deutlich und gesondert nebeneinander, sich gegenseitig ple_051.042
ergänzend zu einem wissenschaftlich-künstlerischen Gesamtverständnis ple_051.043
dichterischer Erscheinungen. In streng wissenschaftlichem Sinne hat die
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