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Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.

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verwirklichen wollte, daß er die Bestandteile der ursprünglichen Dichtung ple_057.002
dazu entsprechend umgearbeitet oder doch mit den späteren verknüpft ple_057.003
hat. Diese letzte und abschließende Intention ist es, die dem objektiv vorliegenden ple_057.004
Gedicht die Einheit gibt und die dementsprechend den Gegenstand ple_057.005
der künstlerischen Erklärung bildet. Wenn hier und da Spuren des ple_057.006
zeitlich verschiedenen Ursprungs wider Willen des Dichters zurückgeblieben ple_057.007
sein sollten, so würde die Erklärung freilich genötigt sein, darauf hinzuweisen; ple_057.008
an solchen Stellen also würde die genetische Erklärung die ple_057.009
künstlerische ersetzen müssen. Allein es wird das offenbar nur ausnahmsweise ple_057.010
der Fall sein. In den genannten beiden Goetheschen Werken findet ple_057.011
sich m. E. keine Spur davon; und es ist verfehlt, wenn man, sobald sich ple_057.012
irgendwelche sachliche Schwierigkeiten darbieten, immer gleich bereit ist, ple_057.013
einen Widerspruch anzuerkennen und ihn auf die zeitliche Verschiedenheit ple_057.014
des Ursprungs zurückzuführen, wie das z. B. manche Erklärer gegenüber ple_057.015
dem freilich nicht einfachen Charakterbild des Antonio tun. Man versperrt ple_057.016
sich hierdurch geradezu den Weg zum künstlerischen Verständnis der ple_057.017
Dichtung oder, was dasselbe sagen will, der abschließenden Intention ple_057.018
des Dichters. Niemals hat ein großer Künstler in einem seiner Werke ple_057.019
Schichten aus verschiedenen Zeiten einfach übereinander gelegt, oder die ple_057.020
Nähte so grob geführt, daß man sie als solche ohne weiteres zu sehen ple_057.021
vermag.

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Der Faust bildet nun freilich eine Ausnahme. Diese Dichtung ist ple_057.023
das Werk eines ganzen langen und reichen Lebens. Eine das Ganze ple_057.024
umfassende Gesamtanschauung ist dem Dichter bekanntlich erst sehr allmählich ple_057.025
zustande gekommen; große Teile des Werkes sind unabhängig ple_057.026
von dieser Anschauung geschaffen und veröffentlicht worden. Und doch ple_057.027
wissen wir aus dem eigenen Zeugnis des Dichters, daß er beim Abschluß ple_057.028
des Werkes überzeugt war, es zu einer Einheit zusammengeschlossen, ja, ple_057.029
den zweiten Teil wenigstens aus einer Konzeption heraus geschrieben zu ple_057.030
haben,1) und hieraus erwächst dem Erklärer die Verpflichtung, dieser Einheit ple_057.031
nachzugeben, soweit sie sich irgend durchführen läßt, ohne den Einzelheiten ple_057.032
Gewalt anzutun. Allerdings ist diese Aufgabe nur zum Teil erfüllbar. ple_057.033
Für die Bedeutung ganzer Szenen und Abschnitte sowohl, wie für eine ple_057.034
große Anzahl einzelner Wendungen und Gedanken wird man davon absehen ple_057.035
müssen, sie aus dem Zusammenhang des Ganzen verstehen zu wollen. ple_057.036
Viele Teile des Werks leben ihr eigenes Leben. Die Helena, die klassische ple_057.037
Walpurgisnacht und so manche andere Abschnitte verdanken ihren Gehalt ple_057.038
nicht dem lockeren Zusammenhang, der sie mit der Gesamtdichtung verbindet, ple_057.039
sondern sind durch diesen nur eben angeregte eigne Schöpfungen. ple_057.040
Im Faust also wird die genetische Erklärung ganz besonders oft der ästhetischen

1) ple_057.041
Vgl. Pniower, Goethes Faust. Zeugnisse und Exkurse zu seiner Entstehungsgeschichte. ple_057.042
Berlin 1899. S. 267 ff. (besonders den Brief an Heinrich Meyer) und 295 (an ple_057.043
Wilhelm v. Humboldt).

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verwirklichen wollte, daß er die Bestandteile der ursprünglichen Dichtung ple_057.002
dazu entsprechend umgearbeitet oder doch mit den späteren verknüpft ple_057.003
hat. Diese letzte und abschließende Intention ist es, die dem objektiv vorliegenden ple_057.004
Gedicht die Einheit gibt und die dementsprechend den Gegenstand ple_057.005
der künstlerischen Erklärung bildet. Wenn hier und da Spuren des ple_057.006
zeitlich verschiedenen Ursprungs wider Willen des Dichters zurückgeblieben ple_057.007
sein sollten, so würde die Erklärung freilich genötigt sein, darauf hinzuweisen; ple_057.008
an solchen Stellen also würde die genetische Erklärung die ple_057.009
künstlerische ersetzen müssen. Allein es wird das offenbar nur ausnahmsweise ple_057.010
der Fall sein. In den genannten beiden Goetheschen Werken findet ple_057.011
sich m. E. keine Spur davon; und es ist verfehlt, wenn man, sobald sich ple_057.012
irgendwelche sachliche Schwierigkeiten darbieten, immer gleich bereit ist, ple_057.013
einen Widerspruch anzuerkennen und ihn auf die zeitliche Verschiedenheit ple_057.014
des Ursprungs zurückzuführen, wie das z. B. manche Erklärer gegenüber ple_057.015
dem freilich nicht einfachen Charakterbild des Antonio tun. Man versperrt ple_057.016
sich hierdurch geradezu den Weg zum künstlerischen Verständnis der ple_057.017
Dichtung oder, was dasselbe sagen will, der abschließenden Intention ple_057.018
des Dichters. Niemals hat ein großer Künstler in einem seiner Werke ple_057.019
Schichten aus verschiedenen Zeiten einfach übereinander gelegt, oder die ple_057.020
Nähte so grob geführt, daß man sie als solche ohne weiteres zu sehen ple_057.021
vermag.

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Der Faust bildet nun freilich eine Ausnahme. Diese Dichtung ist ple_057.023
das Werk eines ganzen langen und reichen Lebens. Eine das Ganze ple_057.024
umfassende Gesamtanschauung ist dem Dichter bekanntlich erst sehr allmählich ple_057.025
zustande gekommen; große Teile des Werkes sind unabhängig ple_057.026
von dieser Anschauung geschaffen und veröffentlicht worden. Und doch ple_057.027
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des Werkes überzeugt war, es zu einer Einheit zusammengeschlossen, ja, ple_057.029
den zweiten Teil wenigstens aus einer Konzeption heraus geschrieben zu ple_057.030
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nachzugeben, soweit sie sich irgend durchführen läßt, ohne den Einzelheiten ple_057.032
Gewalt anzutun. Allerdings ist diese Aufgabe nur zum Teil erfüllbar. ple_057.033
Für die Bedeutung ganzer Szenen und Abschnitte sowohl, wie für eine ple_057.034
große Anzahl einzelner Wendungen und Gedanken wird man davon absehen ple_057.035
müssen, sie aus dem Zusammenhang des Ganzen verstehen zu wollen. ple_057.036
Viele Teile des Werks leben ihr eigenes Leben. Die Helena, die klassische ple_057.037
Walpurgisnacht und so manche andere Abschnitte verdanken ihren Gehalt ple_057.038
nicht dem lockeren Zusammenhang, der sie mit der Gesamtdichtung verbindet, ple_057.039
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Im Faust also wird die genetische Erklärung ganz besonders oft der ästhetischen

1) ple_057.041
Vgl. Pniower, Goethes Faust. Zeugnisse und Exkurse zu seiner Entstehungsgeschichte. ple_057.042
Berlin 1899. S. 267 ff. (besonders den Brief an Heinrich Meyer) und 295 (an ple_057.043
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Zitationshilfe: Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908, S. 57. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lehmann_poetik_1908/71>, abgerufen am 24.11.2024.