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Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.

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Wert, als man denken sollte. Da freilich, wo der Dichter eben diese ple_063.002
Wirklichkeit darstellen will, also in der naturalistischen oder auch realistischen ple_063.003
Kunst, darf er nicht in Widerspruch mit ihr kommen, denn er kommt dadurch ple_063.004
zugleich in Widerspruch mit sich selbst. Wen aber kümmert es, ple_063.005
ja wer bemerkt es auch nur, daß in Goethes Tasso wie in Kleists Prinzen ple_063.006
von Homburg fast alle üblichen höfischen Formen aus dem Verkehr der ple_063.007
Personen weggelassen sind und selbst im Verkehr mit den Fürsten nur ple_063.008
das Du angewandt ist? Im Märchen vollends vermag der Dichter eine ple_063.009
Welt zu schaffen, in der alles äußere Geschehen von der Wirklichkeit ple_063.010
gänzlich abweicht, und doch zwingt er uns, sie zu glauben, wenn ple_063.011
er es nur vermag, die Stimmung in uns zu erwecken, aus der sie ple_063.012
glaublich wird und sie in sich selbst anschaulich und übereinstimmend zu ple_063.013
gestalten.

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Weit wichtiger als die äußerliche ist die innere Übereinstimmung, die ple_063.015
Folgerichtigkeit der Handlung und der Charakteristik. Jede Abbiegung von der ple_063.016
ursprünglichen Intention, jeder Bruch in der Charakterentfaltung rächt sich unerbittlich: ple_063.017
wie sie selbst Zeichen von Schwäche der gestaltenden Phantasie des ple_063.018
Dichters sind, so schwächen sie die Kraft der Wirkung, die von dem Dichtwerk ple_063.019
ausgeht, weil sie das Zwingende aufheben, in dem das Wesen der ple_063.020
Wirkung liegt. Dies zeigt sich z. B. auffallend in den meisten Wildenbruchschen ple_063.021
Dramen, besonders deutlich in dem Neuen Gebot, sowie in dem sonst ple_063.022
vielfach trefflichen Heinrich und Heinrichs Geschlecht: die Wirkung, ple_063.023
welche der Verlauf dieser Tragödien ausübt, bleibt trotz den gesteigerten theatralischen ple_063.024
Mitteln hinter dem Eindruck der ersten Akte zurück, weil sie -- vielleicht ple_063.025
eben der Bühnenwirkung zuliebe -- nicht folgerichtig durchgeführt ple_063.026
sind. In noch stärkerem Maße zeigt sich das in einem Bühnenstück wie Beer- ple_063.027
Hoffmanns Grafen von Charolais, der vor kurzem im Sturm die deutschen ple_063.028
Bühnen eroberte, aber sich, wie es scheint, auf keiner erhalten hat. Hier ist allerdings ple_063.029
die Diskrepanz zwischen den beiden Schlußakten und den drei ersten ple_063.030
so grob und unvermittelt, daß dem Drama dadurch, trotz unbestreitbarer ple_063.031
Schönheiten in den Anfangsteilen, der Charakter eines Kunstwerks genommen ple_063.032
wird. Allerdings scheinen jene plötzlichen Bekehrungen von Toren oder ple_063.033
Bösewichtern, wie sie am Schlusse von Lustspielen und Rührstücken von ple_063.034
jeher üblich waren und noch sind, die Wirkung solcher Stücke zu steigern. ple_063.035
Selbst Shakespeare hat in manchen seiner Lustspiele dieses Mittel angewandt ple_063.036
und Schiller hat es sich am Schluß von Kabale und Liebe gestattet, ple_063.037
um der poetischen Gerechtigkeit Genüge zu leisten. Die Neigung ple_063.038
des Theaterpublikums, die dem Rührenden und Versöhnlichen entgegenzukommen ple_063.039
pflegt, und der fallende Vorhang, der eine breitere Ausmalung ple_063.040
und weitere Besinnung verhindert, helfen darüber hinweg: aber solche ple_063.041
Mittel sind ein für allemal psychologisch unwahr, daher werden sie dem ple_063.042
tiefer Betrachtenden die künstlerische Wirkung niemals erhöhen, oft genug ple_063.043
stören oder gar zerstören.

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Wert, als man denken sollte. Da freilich, wo der Dichter eben diese ple_063.002
Wirklichkeit darstellen will, also in der naturalistischen oder auch realistischen ple_063.003
Kunst, darf er nicht in Widerspruch mit ihr kommen, denn er kommt dadurch ple_063.004
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ja wer bemerkt es auch nur, daß in Goethes Tasso wie in Kleists Prinzen ple_063.006
von Homburg fast alle üblichen höfischen Formen aus dem Verkehr der ple_063.007
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gänzlich abweicht, und doch zwingt er uns, sie zu glauben, wenn ple_063.011
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glaublich wird und sie in sich selbst anschaulich und übereinstimmend zu ple_063.013
gestalten.

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Weit wichtiger als die äußerliche ist die innere Übereinstimmung, die ple_063.015
Folgerichtigkeit der Handlung und der Charakteristik. Jede Abbiegung von der ple_063.016
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Dichters sind, so schwächen sie die Kraft der Wirkung, die von dem Dichtwerk ple_063.019
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Dramen, besonders deutlich in dem Neuen Gebot, sowie in dem sonst ple_063.022
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eben der Bühnenwirkung zuliebe — nicht folgerichtig durchgeführt ple_063.026
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Hoffmanns Grafen von Charolais, der vor kurzem im Sturm die deutschen ple_063.028
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Schönheiten in den Anfangsteilen, der Charakter eines Kunstwerks genommen ple_063.032
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Selbst Shakespeare hat in manchen seiner Lustspiele dieses Mittel angewandt ple_063.036
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[63/0077] ple_063.001 Wert, als man denken sollte. Da freilich, wo der Dichter eben diese ple_063.002 Wirklichkeit darstellen will, also in der naturalistischen oder auch realistischen ple_063.003 Kunst, darf er nicht in Widerspruch mit ihr kommen, denn er kommt dadurch ple_063.004 zugleich in Widerspruch mit sich selbst. Wen aber kümmert es, ple_063.005 ja wer bemerkt es auch nur, daß in Goethes Tasso wie in Kleists Prinzen ple_063.006 von Homburg fast alle üblichen höfischen Formen aus dem Verkehr der ple_063.007 Personen weggelassen sind und selbst im Verkehr mit den Fürsten nur ple_063.008 das Du angewandt ist? Im Märchen vollends vermag der Dichter eine ple_063.009 Welt zu schaffen, in der alles äußere Geschehen von der Wirklichkeit ple_063.010 gänzlich abweicht, und doch zwingt er uns, sie zu glauben, wenn ple_063.011 er es nur vermag, die Stimmung in uns zu erwecken, aus der sie ple_063.012 glaublich wird und sie in sich selbst anschaulich und übereinstimmend zu ple_063.013 gestalten. ple_063.014 Weit wichtiger als die äußerliche ist die innere Übereinstimmung, die ple_063.015 Folgerichtigkeit der Handlung und der Charakteristik. Jede Abbiegung von der ple_063.016 ursprünglichen Intention, jeder Bruch in der Charakterentfaltung rächt sich unerbittlich: ple_063.017 wie sie selbst Zeichen von Schwäche der gestaltenden Phantasie des ple_063.018 Dichters sind, so schwächen sie die Kraft der Wirkung, die von dem Dichtwerk ple_063.019 ausgeht, weil sie das Zwingende aufheben, in dem das Wesen der ple_063.020 Wirkung liegt. Dies zeigt sich z. B. auffallend in den meisten Wildenbruchschen ple_063.021 Dramen, besonders deutlich in dem Neuen Gebot, sowie in dem sonst ple_063.022 vielfach trefflichen Heinrich und Heinrichs Geschlecht: die Wirkung, ple_063.023 welche der Verlauf dieser Tragödien ausübt, bleibt trotz den gesteigerten theatralischen ple_063.024 Mitteln hinter dem Eindruck der ersten Akte zurück, weil sie — vielleicht ple_063.025 eben der Bühnenwirkung zuliebe — nicht folgerichtig durchgeführt ple_063.026 sind. In noch stärkerem Maße zeigt sich das in einem Bühnenstück wie Beer- ple_063.027 Hoffmanns Grafen von Charolais, der vor kurzem im Sturm die deutschen ple_063.028 Bühnen eroberte, aber sich, wie es scheint, auf keiner erhalten hat. Hier ist allerdings ple_063.029 die Diskrepanz zwischen den beiden Schlußakten und den drei ersten ple_063.030 so grob und unvermittelt, daß dem Drama dadurch, trotz unbestreitbarer ple_063.031 Schönheiten in den Anfangsteilen, der Charakter eines Kunstwerks genommen ple_063.032 wird. Allerdings scheinen jene plötzlichen Bekehrungen von Toren oder ple_063.033 Bösewichtern, wie sie am Schlusse von Lustspielen und Rührstücken von ple_063.034 jeher üblich waren und noch sind, die Wirkung solcher Stücke zu steigern. ple_063.035 Selbst Shakespeare hat in manchen seiner Lustspiele dieses Mittel angewandt ple_063.036 und Schiller hat es sich am Schluß von Kabale und Liebe gestattet, ple_063.037 um der poetischen Gerechtigkeit Genüge zu leisten. Die Neigung ple_063.038 des Theaterpublikums, die dem Rührenden und Versöhnlichen entgegenzukommen ple_063.039 pflegt, und der fallende Vorhang, der eine breitere Ausmalung ple_063.040 und weitere Besinnung verhindert, helfen darüber hinweg: aber solche ple_063.041 Mittel sind ein für allemal psychologisch unwahr, daher werden sie dem ple_063.042 tiefer Betrachtenden die künstlerische Wirkung niemals erhöhen, oft genug ple_063.043 stören oder gar zerstören.

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Zitationshilfe: Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908, S. 63. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lehmann_poetik_1908/77>, abgerufen am 24.11.2024.