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Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.

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Aber Widerspruchslosigkeit und innere Übereinstimmung ist doch ple_064.002
mehr eine Forderung negativen Inhalts. Die positive Grundlage der dichterischen ple_064.003
Wirkung im Epos und im Drama ist immer die, daß der ple_064.004
Dichter, der uns eine gegenständliche Welt, Menschen und Handlungen ple_064.005
schaffen will, sie mit bildender Kraft anschaulich zu machen vermag, ple_064.006
anschaulich nach ihren äußeren Verhältnissen, noch mehr aber in der ple_064.007
Lebendigkeit des seelischen Geschehens. Worauf diese Kraft der Veranschaulichung ple_064.008
beruht, darüber können uns im einzelnen erst die folgenden ple_064.009
Untersuchungen belehren; so viel aber wird man immerhin vorgreifend ple_064.010
sagen können, es ist erstens die Gabe des inneren Schauens und der lebendig ple_064.011
gestaltenden Phantasie und zweitens das sprachschöpferische Vermögen, ple_064.012
die Fähigkeit, das innere Erlebnis in Worten zum Ausdruck zu bringen, wodurch ple_064.013
der Dichter unsere Phantasie zwingt, zu sehen und zu gestalten, ple_064.014
was er gesehen und gestaltet hat. Hier ist der Brennpunkt seiner schöpferischen ple_064.015
Kraft und hier liegen auch die stärksten Unterschiede im Können, ple_064.016
hier scheidet sich am deutlichsten der Genius von dem bloßen Talent. Er ple_064.017
zwingt uns, an seine Welt und ihre Gesetze, an die Absichten und Taten ple_064.018
seiner Menschen zu glauben, auch da, wo unser Verstand widerstreben ple_064.019
möchte, während uns ein schwächerer Bildner auch da nicht immer überzeugt, ple_064.020
wo wir verstandesmäßig zugeben müssen, daß er das Richtige getroffen ple_064.021
hat. Ein rationalistisch gebildetes, von allem Wunderglauben freies ple_064.022
Publikum vermag er in die Welt der Wunder und Gespenster zu versetzen, ple_064.023
nicht weil, wie Lessing in der Dramaturgie meinte, der Samen, sie zu ple_064.024
glauben, in uns allen läge, sondern weil sie wirklich sind, in seiner Phantasie ple_064.025
nämlich und in der unseren, die er beherrscht, weil er sie erlebt und ple_064.026
gesehen hat und daher auch uns zwingt, sie zu sehen. Mit Macbeth erblicken ple_064.027
wir schaudernd, wie der tote Banquo die blutgen Locken schüttelt. ple_064.028
Solange wir den Geist von Hamlets Vater reden hören, glauben wir an ple_064.029
Hölle und Fegefeuer, an "die Stunde, wo Grüfte gähnen und Gespenster ple_064.030
schreiten", nicht minder wie an die sehr lebenstreue Schilderung des Hofgesindes ple_064.031
und seines wurmstichigen Königs. Wir nehmen die Erscheinung ple_064.032
des Erdgeists im Faust ebenso widerspruchslos auf, wie die realistische ple_064.033
Schilderung der zechenden Studenten; und Schiller, dessen starke Seite ple_064.034
das Überirdische sonst nicht ist, zwingt uns durch die Worte des Gebets ple_064.035
seiner Jungfrau mit einer Suggestionskraft ohnegleichen, das Wunder mit ple_064.036
seiner Heldin zu erwarten, zu fordern, und als es eintritt, natürlich zu finden. ple_064.037
Aber wie kalt lassen uns schon die meisten Geistererscheinungen im zweiten ple_064.038
Teil des Faust, den der Dichter mit absterbender Gestaltungskraft geschaffen. ple_064.039
Wie herrscht z. B. in der Grablegungsszene so gar nichts von dem Grauen ple_064.040
der mittelalterlichen Legende, die sie verkörpert, -- über die zum Glück ple_064.041
spärlichen Versuche dieser Art bei neueren Dichtern gar nicht zu reden. ple_064.042
Und ein entsprechender Unterschied der dichterischen Kraft und ihrer ple_064.043
Wirkung zeigt sich, auch wenn die Dichtung sich ganz auf einheitlichem

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[64/0078] ple_064.001 Aber Widerspruchslosigkeit und innere Übereinstimmung ist doch ple_064.002 mehr eine Forderung negativen Inhalts. Die positive Grundlage der dichterischen ple_064.003 Wirkung im Epos und im Drama ist immer die, daß der ple_064.004 Dichter, der uns eine gegenständliche Welt, Menschen und Handlungen ple_064.005 schaffen will, sie mit bildender Kraft anschaulich zu machen vermag, ple_064.006 anschaulich nach ihren äußeren Verhältnissen, noch mehr aber in der ple_064.007 Lebendigkeit des seelischen Geschehens. Worauf diese Kraft der Veranschaulichung ple_064.008 beruht, darüber können uns im einzelnen erst die folgenden ple_064.009 Untersuchungen belehren; so viel aber wird man immerhin vorgreifend ple_064.010 sagen können, es ist erstens die Gabe des inneren Schauens und der lebendig ple_064.011 gestaltenden Phantasie und zweitens das sprachschöpferische Vermögen, ple_064.012 die Fähigkeit, das innere Erlebnis in Worten zum Ausdruck zu bringen, wodurch ple_064.013 der Dichter unsere Phantasie zwingt, zu sehen und zu gestalten, ple_064.014 was er gesehen und gestaltet hat. Hier ist der Brennpunkt seiner schöpferischen ple_064.015 Kraft und hier liegen auch die stärksten Unterschiede im Können, ple_064.016 hier scheidet sich am deutlichsten der Genius von dem bloßen Talent. Er ple_064.017 zwingt uns, an seine Welt und ihre Gesetze, an die Absichten und Taten ple_064.018 seiner Menschen zu glauben, auch da, wo unser Verstand widerstreben ple_064.019 möchte, während uns ein schwächerer Bildner auch da nicht immer überzeugt, ple_064.020 wo wir verstandesmäßig zugeben müssen, daß er das Richtige getroffen ple_064.021 hat. Ein rationalistisch gebildetes, von allem Wunderglauben freies ple_064.022 Publikum vermag er in die Welt der Wunder und Gespenster zu versetzen, ple_064.023 nicht weil, wie Lessing in der Dramaturgie meinte, der Samen, sie zu ple_064.024 glauben, in uns allen läge, sondern weil sie wirklich sind, in seiner Phantasie ple_064.025 nämlich und in der unseren, die er beherrscht, weil er sie erlebt und ple_064.026 gesehen hat und daher auch uns zwingt, sie zu sehen. Mit Macbeth erblicken ple_064.027 wir schaudernd, wie der tote Banquo die blutgen Locken schüttelt. ple_064.028 Solange wir den Geist von Hamlets Vater reden hören, glauben wir an ple_064.029 Hölle und Fegefeuer, an „die Stunde, wo Grüfte gähnen und Gespenster ple_064.030 schreiten“, nicht minder wie an die sehr lebenstreue Schilderung des Hofgesindes ple_064.031 und seines wurmstichigen Königs. Wir nehmen die Erscheinung ple_064.032 des Erdgeists im Faust ebenso widerspruchslos auf, wie die realistische ple_064.033 Schilderung der zechenden Studenten; und Schiller, dessen starke Seite ple_064.034 das Überirdische sonst nicht ist, zwingt uns durch die Worte des Gebets ple_064.035 seiner Jungfrau mit einer Suggestionskraft ohnegleichen, das Wunder mit ple_064.036 seiner Heldin zu erwarten, zu fordern, und als es eintritt, natürlich zu finden. ple_064.037 Aber wie kalt lassen uns schon die meisten Geistererscheinungen im zweiten ple_064.038 Teil des Faust, den der Dichter mit absterbender Gestaltungskraft geschaffen. ple_064.039 Wie herrscht z. B. in der Grablegungsszene so gar nichts von dem Grauen ple_064.040 der mittelalterlichen Legende, die sie verkörpert, — über die zum Glück ple_064.041 spärlichen Versuche dieser Art bei neueren Dichtern gar nicht zu reden. ple_064.042 Und ein entsprechender Unterschied der dichterischen Kraft und ihrer ple_064.043 Wirkung zeigt sich, auch wenn die Dichtung sich ganz auf einheitlichem

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Zitationshilfe: Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908, S. 64. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lehmann_poetik_1908/78>, abgerufen am 24.11.2024.