Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_070.001 ple_070.009 ple_070.017 ple_070.001 ple_070.009 ple_070.017 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0084" n="70"/><lb n="ple_070.001"/> Poeten, einen Macher. Aber nicht jeder Poet ist dem <hi rendition="#g">Grad</hi> nach ein vortrefflicher. <lb n="ple_070.002"/> Der Grad seiner Vollkommenheit beruht auf dem Reichtum, <lb n="ple_070.003"/> dem Gehalt, den er in sich hat und folglich außer sich darstellt, und auf <lb n="ple_070.004"/> dem Grad der Notwendigkeit, die sein Werk ausübt. — Es leben jetzt <lb n="ple_070.005"/> mehrere so weit ausgebildete Menschen, die nur das ganz Vortreffliche befriedigt, <lb n="ple_070.006"/> die aber nicht imstande wären, auch nur etwas Gutes hervorzubringen. <lb n="ple_070.007"/> Sie können nichts machen, ihnen ist der Weg vom Subjekt <lb n="ple_070.008"/> zum Objekt verschlossen; aber eben dieser Schritt macht mir den Poeten.</p> <p><lb n="ple_070.009"/> Ebenso gab und gibt es Dichter genug, die etwas Gutes und Charakteristisches <lb n="ple_070.010"/> hervorbringen können, aber mit ihrem Produkt jene hohen <lb n="ple_070.011"/> Forderungen nicht erreichen, ja nicht einmal an sich selbst machen. Diesen <lb n="ple_070.012"/> nun, sage ich, fehlt nur der Grad, jenen fehlt aber die Art. Die ersten, <lb n="ple_070.013"/> welche sich auf dem vagen Gebiet des Absoluten aufhalten, halten ihren <lb n="ple_070.014"/> Gegnern immer nur die dunkle Idee des Höchsten entgegen, diese hingegen <lb n="ple_070.015"/> haben die Tat für sich, die zwar beschränkt aber reell ist. Aus der <lb n="ple_070.016"/> Idee kann ohne die Tat gar nichts werden.“</p> <p><lb n="ple_070.017"/> Hieraus ergeben sich nun einige wichtige Forderungen: zunächst die, <lb n="ple_070.018"/> daß es vom ästhetischen Standpunkt aus nicht zulässig ist, von einem <lb n="ple_070.019"/> Dichter hohe Intentionen, tiefe und unmittelbare Bedeutsamkeit oder gar <lb n="ple_070.020"/> moralische Tendenzen zu <hi rendition="#g">fordern.</hi> Eine solche Forderung würde folgerichtig <lb n="ple_070.021"/> durchgeführt die Poesie wiederum in den Dienst außerkünstlerischer <lb n="ple_070.022"/> Mächte zurückführen, wie sie ihr, vor der befreienden Wirksamkeit unserer <lb n="ple_070.023"/> Klassiker, durch die moralisierende Tendenz des 16. und den Rationalismus <lb n="ple_070.024"/> des 17. und 18. Jahrhunders aufgezwungen war. „Die Dichtkunst“, schreibt <lb n="ple_070.025"/> Goethe in seiner Antwort auf jenen Schillerschen Brief vom 6. April 1801, <lb n="ple_070.026"/> „verlangt im Subjekt, das sie ausüben soll, eine gewisse gutmütige, ins <lb n="ple_070.027"/> Reale verliebte Beschränktheit, hinter welcher das Absolute verborgen liegt. <lb n="ple_070.028"/> Die Forderungen von oben herein zerstören jenen unschuldigen produktiven <lb n="ple_070.029"/> Zustand und setzen, für lauter Poesie, an die Stelle der Poesie etwas, <lb n="ple_070.030"/> das nun ein für allemal nicht Poesie ist, wie wir in unseren Tagen leider <lb n="ple_070.031"/> gewahr werden.“ Jede echte und lebendige Dichtung, das will Goethe <lb n="ple_070.032"/> sagen, besitzt eine typische Bedeutsamkeit, indem durch das, was sie darstellt, <lb n="ple_070.033"/> die allgemeine Natur des Menschen und des Weltgeschehens sichtbar <lb n="ple_070.034"/> wird, wenn auch nur in einem kleinen Ausschnitt. Aber eben darum darf <lb n="ple_070.035"/> und braucht man die <hi rendition="#g">bewußte</hi> Beziehung auf das Allgemeine nicht beanspruchen, <lb n="ple_070.036"/> darf man nicht fordern, daß die Dichtung den Zusammenhang <lb n="ple_070.037"/> mit einer theoretischen Weltanschauung oder gar mit praktischen Tendenzen <lb n="ple_070.038"/> zum Ausdruck bringe. Wo ein solcher Zusammenhang dem inneren Erlebnis <lb n="ple_070.039"/> des Dichters entspringt, wie in Goethes Iphigenie oder Schillers <lb n="ple_070.040"/> Don Carlos, da freilich wird er dem Kunstwerk jene tiefere Bedeutsamkeit <lb n="ple_070.041"/> verleihen; und der künstlerische Wert wird um so reiner hervortreten, je <lb n="ple_070.042"/> unmittelbarer dieser Ursprung ist, je weniger ihm eine bewußte lehrhafte <lb n="ple_070.043"/> oder praktische Tendenz zugrunde liegt. So wirkt das patriotische und </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [70/0084]
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Poeten, einen Macher. Aber nicht jeder Poet ist dem Grad nach ein vortrefflicher. ple_070.002
Der Grad seiner Vollkommenheit beruht auf dem Reichtum, ple_070.003
dem Gehalt, den er in sich hat und folglich außer sich darstellt, und auf ple_070.004
dem Grad der Notwendigkeit, die sein Werk ausübt. — Es leben jetzt ple_070.005
mehrere so weit ausgebildete Menschen, die nur das ganz Vortreffliche befriedigt, ple_070.006
die aber nicht imstande wären, auch nur etwas Gutes hervorzubringen. ple_070.007
Sie können nichts machen, ihnen ist der Weg vom Subjekt ple_070.008
zum Objekt verschlossen; aber eben dieser Schritt macht mir den Poeten.
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Ebenso gab und gibt es Dichter genug, die etwas Gutes und Charakteristisches ple_070.010
hervorbringen können, aber mit ihrem Produkt jene hohen ple_070.011
Forderungen nicht erreichen, ja nicht einmal an sich selbst machen. Diesen ple_070.012
nun, sage ich, fehlt nur der Grad, jenen fehlt aber die Art. Die ersten, ple_070.013
welche sich auf dem vagen Gebiet des Absoluten aufhalten, halten ihren ple_070.014
Gegnern immer nur die dunkle Idee des Höchsten entgegen, diese hingegen ple_070.015
haben die Tat für sich, die zwar beschränkt aber reell ist. Aus der ple_070.016
Idee kann ohne die Tat gar nichts werden.“
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Hieraus ergeben sich nun einige wichtige Forderungen: zunächst die, ple_070.018
daß es vom ästhetischen Standpunkt aus nicht zulässig ist, von einem ple_070.019
Dichter hohe Intentionen, tiefe und unmittelbare Bedeutsamkeit oder gar ple_070.020
moralische Tendenzen zu fordern. Eine solche Forderung würde folgerichtig ple_070.021
durchgeführt die Poesie wiederum in den Dienst außerkünstlerischer ple_070.022
Mächte zurückführen, wie sie ihr, vor der befreienden Wirksamkeit unserer ple_070.023
Klassiker, durch die moralisierende Tendenz des 16. und den Rationalismus ple_070.024
des 17. und 18. Jahrhunders aufgezwungen war. „Die Dichtkunst“, schreibt ple_070.025
Goethe in seiner Antwort auf jenen Schillerschen Brief vom 6. April 1801, ple_070.026
„verlangt im Subjekt, das sie ausüben soll, eine gewisse gutmütige, ins ple_070.027
Reale verliebte Beschränktheit, hinter welcher das Absolute verborgen liegt. ple_070.028
Die Forderungen von oben herein zerstören jenen unschuldigen produktiven ple_070.029
Zustand und setzen, für lauter Poesie, an die Stelle der Poesie etwas, ple_070.030
das nun ein für allemal nicht Poesie ist, wie wir in unseren Tagen leider ple_070.031
gewahr werden.“ Jede echte und lebendige Dichtung, das will Goethe ple_070.032
sagen, besitzt eine typische Bedeutsamkeit, indem durch das, was sie darstellt, ple_070.033
die allgemeine Natur des Menschen und des Weltgeschehens sichtbar ple_070.034
wird, wenn auch nur in einem kleinen Ausschnitt. Aber eben darum darf ple_070.035
und braucht man die bewußte Beziehung auf das Allgemeine nicht beanspruchen, ple_070.036
darf man nicht fordern, daß die Dichtung den Zusammenhang ple_070.037
mit einer theoretischen Weltanschauung oder gar mit praktischen Tendenzen ple_070.038
zum Ausdruck bringe. Wo ein solcher Zusammenhang dem inneren Erlebnis ple_070.039
des Dichters entspringt, wie in Goethes Iphigenie oder Schillers ple_070.040
Don Carlos, da freilich wird er dem Kunstwerk jene tiefere Bedeutsamkeit ple_070.041
verleihen; und der künstlerische Wert wird um so reiner hervortreten, je ple_070.042
unmittelbarer dieser Ursprung ist, je weniger ihm eine bewußte lehrhafte ple_070.043
oder praktische Tendenz zugrunde liegt. So wirkt das patriotische und
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