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Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.

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erklärlich, daß seine Kritik so wenig nachgewirkt hat und daß der ple_077.002
Schulästhetik noch heute die Grundanschauungen des Laokoon mit ihren ple_077.003
Konsequenzen, den Lehren vom fruchtbarsten Moment, von der Einheit der ple_077.004
malerischen Beiwörter u. s. w. als unumstößliche Wahrheiten gelten. Was ple_077.005
Herder unter Energie der Rede versteht, ist keineswegs klar herausgebracht, ple_077.006
vielmehr scheint er mit der Bedeutung des sukzessiven Charakters zugleich ple_077.007
auch die übrigen Wesenseigentümlichkeiten der Sprache aus dem Wesen ple_077.008
der Dichtkunst auszuschalten, -- seltsam genug für den genialen Bahnbrecher ple_077.009
sprachwissenschaftlicher Forschung. Die Worte bleiben ihm Zeichen ple_077.010
und "bei keinem Zeichen muß das Zeichen selbst, sondern der Sinn des ple_077.011
Zeichens empfunden werden". Die Kraft der Poesie liegt also -- wie bei ple_077.012
Lessing -- ganz und gar in dem Sinn der Worte, und noch in der Kalligone ple_077.013
heißt es (Werke, her. v. Suphan XXII S. 326): "Das Symbolische der Laute oder ple_077.014
gar der Buchstaben bleibt in einer uns geläufigen Sprache außerhalb der ple_077.015
Seele. Diese schafft und bildet sich aus Worten eine diesen ganz fremde, ple_077.016
ihr selbst aber eigene Welt, Ideen, Bilder, wesenhafte Gestalten." ple_077.017
So bleibt es denn fast hundert Jahre hindurch die herrschende Meinung, daß ple_077.018
Worte nur Zeichen für sinnliche Anschauungen seien und solche in der ple_077.019
Seele erweckten, daß es mithin auch in der Poesie darauf ankomme, durch ple_077.020
die Mittel der Sprache anschauliche Bilder zu gestalten.1)

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Allein von zwei verschiedenen Seiten wurde diese Meinung allmählich erschüttert ple_077.022
und in Frage gestellt. Einmal rief die wissenschaftliche, insbesondere ple_077.023
die psychologische Untersuchung über das Wesen der Sprache die allgemeine ple_077.024
Erkenntnis hervor, daß das Verhältnis des Worts zur Anschauung keineswegs ple_077.025
so einfach ist, wie es die frühere Theorie auffaßte, daß es mit dem Ausdruck ple_077.026
Zeichen nur sehr unzulänglich wiedergegeben wird, und daß die ple_077.027
Rede eine Reihe von psychologischen Wirkungen beabsichtigt und auslöst, ple_077.028
die durchaus nicht auf die Erweckung innerlicher Anschauungsbilder zurückzuführen ple_077.029
sind. Anderseits führte der künstlerische Gegensatz zwischen Naturalismus ple_077.030
und Neuromantik, wie er namentlich in der französischen Literatur ple_077.031
mit Schärfe hervortrat, zu der besonderen Frage, ob die Eigenart der Poesie ple_077.032
wirklich auf der Fähigkeit der Sprache, bestimmte Anschauungen hervorzurufen, ple_077.033
beruhe oder vielmehr auf ihrem musikalischen Charakter ohne Beziehung ple_077.034
auf inhaltliche Anschauung. Während die naturalistischen Romandichter, ple_077.035
Flaubert, die Brüder Goncourt und Zola mit allen Kräften des Verstandes ple_077.036
wie der Phantasie auf die höchste bildliche Anschaulichkeit der Sprache ple_077.037
hinarbeiteten und darüber vielfach in die vorlessingsche Art der Beschreibungen ple_077.038
zurückfielen, war den symbolistischen Dichtern, wie Mallarme und ple_077.039
Verlaine, in Deutschland Stefan George und seinem Kreise, die Sprache ple_077.040
vor allem ein musikalisches Instrument: die Worte erwecken, freilich nicht

1) ple_077.041
Eine belehrende Übersicht über die Entwicklung des Problems hat Jonas Cohn ple_077.042
in der Zeitschrift für Ästhetik (1907, Aprilheft) gegeben.

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erklärlich, daß seine Kritik so wenig nachgewirkt hat und daß der ple_077.002
Schulästhetik noch heute die Grundanschauungen des Laokoon mit ihren ple_077.003
Konsequenzen, den Lehren vom fruchtbarsten Moment, von der Einheit der ple_077.004
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Herder unter Energie der Rede versteht, ist keineswegs klar herausgebracht, ple_077.006
vielmehr scheint er mit der Bedeutung des sukzessiven Charakters zugleich ple_077.007
auch die übrigen Wesenseigentümlichkeiten der Sprache aus dem Wesen ple_077.008
der Dichtkunst auszuschalten, — seltsam genug für den genialen Bahnbrecher ple_077.009
sprachwissenschaftlicher Forschung. Die Worte bleiben ihm Zeichen ple_077.010
und „bei keinem Zeichen muß das Zeichen selbst, sondern der Sinn des ple_077.011
Zeichens empfunden werden“. Die Kraft der Poesie liegt also — wie bei ple_077.012
Lessing — ganz und gar in dem Sinn der Worte, und noch in der Kalligone ple_077.013
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gar der Buchstaben bleibt in einer uns geläufigen Sprache außerhalb der ple_077.015
Seele. Diese schafft und bildet sich aus Worten eine diesen ganz fremde, ple_077.016
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Worte nur Zeichen für sinnliche Anschauungen seien und solche in der ple_077.019
Seele erweckten, daß es mithin auch in der Poesie darauf ankomme, durch ple_077.020
die Mittel der Sprache anschauliche Bilder zu gestalten.1)

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Allein von zwei verschiedenen Seiten wurde diese Meinung allmählich erschüttert ple_077.022
und in Frage gestellt. Einmal rief die wissenschaftliche, insbesondere ple_077.023
die psychologische Untersuchung über das Wesen der Sprache die allgemeine ple_077.024
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Zitationshilfe: Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908, S. 77. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lehmann_poetik_1908/91>, abgerufen am 24.11.2024.