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Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.

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des einzelnen Zuges würde in den verschiedenen Künsten doch ple_076.002
wieder die gleiche sein. Ob der Künstler z. B. blaue Farbe malt oder das ple_076.003
Wort blau schreibt, würde keinen Unterschied machen. Denn auch in der ple_076.004
Poesie wird soviel malerisch angeschaut, wie es in einem Moment möglich ple_076.005
ist, und die Verschiedenheit beider Künste wäre mithin nur relativ.

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Das Unzureichende dieser Grundansicht vom Wesen der Sprache, das Unzulängliche ple_076.007
der auf sie begründeten Lehre hat schon wenige Jahre nach dem Erscheinen ple_076.008
des Laokoon Herder im ersten kritischen Wäldchen hervorgehoben. ple_076.009
"Das Sukzessive in den Tönen ist nicht das Wesen der Dichtkunst", heißt es ple_076.010
dort (Abschnitt 15). "Die artikulierten Töne haben in der Poesie nicht ple_076.011
eben dasselbe Verhältnis zu ihrem Bezeichneten, was in der Malerei Figuren ple_076.012
und Farben zu dem ihrigen haben." -- "Die Poesie wirkt durch Kraft -- ple_076.013
durch Kraft, die dem Worte beiwohnt, zwar durch das Ohr geht, aber unmittelbar ple_076.014
auf die Seele wirkt. Diese Kraft ist das Wesen der Poesie, nicht ple_076.015
aber das Koexistente oder die Sukzession. Bei keinem Zeichen muß das ple_076.016
Zeichen selbst, sondern der Sinn des Zeichens empfunden werden." Aus ple_076.017
dem Sukzessiven der Töne folgt wenig oder nichts. "Durch die Erzählung ple_076.018
vom Szepter des Agamemnon, vom Bogen des Pandarus wird eine anschauliche ple_076.019
Schilderung dieser Gegenstände nicht ersetzt, soll auch nicht ple_076.020
ersetzt werden. Homer erzählt nicht, um zu malen, sondern statt zu ple_076.021
malen, nicht weil Sukzession das Wesen dieser Kunst ist, sondern weil ple_076.022
dieses Wesen Energie, Kraft, nur in der Bewegung zutage treten kann. ple_076.023
"Lessing kann nicht sagen, es sei Homer mit seiner Geschichte des Bogens ple_076.024
um sein Bild und bloß um sein Bild zu tun gewesen. Um nichts minder ple_076.025
als hierum: die Stärke, die Kraft des Bogens war seine Sache; sie, und ple_076.026
nicht die Gestalt des Bogens gehört zum Gedicht, sie, und keine andere ple_076.027
Eigenschaft soll hier energisch mitwirken, daß wir, wenn nachher Pandarus ple_076.028
abdrückt, wenn nachher die Sehne schwirrt, der Pfeil trifft -- um so mehr ple_076.029
den Pfeil empfinden." Und keinesfalls ist Lessing berechtigt, was vom ple_076.030
epischen Dichter gilt, ohne weiteres auf die übrigen Gedichtarten zu übertragen. ple_076.031
"Ich zittere vor dem Blutbade, das seine Sätze unter alten und ple_076.032
neuen Poeten anrichten müssen."

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Zusammengefaßt also lautet die Lehre Herders: Anschaulichkeit der ple_076.034
Poesie ist Energie der Rede, durch welche wirkende Kraft dargestellt wird. ple_076.035
Das Konsekutive ist eine bloß äußere Form, die für den Inhalt der Poesie ple_076.036
nicht wesentlich ist und sie daher auch nicht absolut bindet.

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Man sieht: dem rationalistischen Kritiker, der aus einigen scharfgefaßten, ple_076.038
aber engen Begriffen sein Gebäude errichtet, tritt der künstlerisch ple_076.039
empfindende Denker gegenüber, der, selbst wo er noch nicht ple_076.040
zu voller Klarheit kommt, doch überall volles innerliches Leben statt des ple_076.041
abstrakten Begriffs erfaßt. Freilich, auch Herder ist klarer und siegreicher ple_076.042
da, wo er die Unzulänglichkeit in der Lehre seines Vorgängers ple_076.043
nachweist als da, wo er seine eigene begründet. Und daher ist es immerhin

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des einzelnen Zuges würde in den verschiedenen Künsten doch ple_076.002
wieder die gleiche sein. Ob der Künstler z. B. blaue Farbe malt oder das ple_076.003
Wort blau schreibt, würde keinen Unterschied machen. Denn auch in der ple_076.004
Poesie wird soviel malerisch angeschaut, wie es in einem Moment möglich ple_076.005
ist, und die Verschiedenheit beider Künste wäre mithin nur relativ.

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Das Unzureichende dieser Grundansicht vom Wesen der Sprache, das Unzulängliche ple_076.007
der auf sie begründeten Lehre hat schon wenige Jahre nach dem Erscheinen ple_076.008
des Laokoon Herder im ersten kritischen Wäldchen hervorgehoben. ple_076.009
„Das Sukzessive in den Tönen ist nicht das Wesen der Dichtkunst“, heißt es ple_076.010
dort (Abschnitt 15). „Die artikulierten Töne haben in der Poesie nicht ple_076.011
eben dasselbe Verhältnis zu ihrem Bezeichneten, was in der Malerei Figuren ple_076.012
und Farben zu dem ihrigen haben.“ — „Die Poesie wirkt durch Kraftple_076.013
durch Kraft, die dem Worte beiwohnt, zwar durch das Ohr geht, aber unmittelbar ple_076.014
auf die Seele wirkt. Diese Kraft ist das Wesen der Poesie, nicht ple_076.015
aber das Koexistente oder die Sukzession. Bei keinem Zeichen muß das ple_076.016
Zeichen selbst, sondern der Sinn des Zeichens empfunden werden.“ Aus ple_076.017
dem Sukzessiven der Töne folgt wenig oder nichts. „Durch die Erzählung ple_076.018
vom Szepter des Agamemnon, vom Bogen des Pandarus wird eine anschauliche ple_076.019
Schilderung dieser Gegenstände nicht ersetzt, soll auch nicht ple_076.020
ersetzt werden. Homer erzählt nicht, um zu malen, sondern statt zu ple_076.021
malen, nicht weil Sukzession das Wesen dieser Kunst ist, sondern weil ple_076.022
dieses Wesen Energie, Kraft, nur in der Bewegung zutage treten kann. ple_076.023
„Lessing kann nicht sagen, es sei Homer mit seiner Geschichte des Bogens ple_076.024
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epischen Dichter gilt, ohne weiteres auf die übrigen Gedichtarten zu übertragen. ple_076.031
„Ich zittere vor dem Blutbade, das seine Sätze unter alten und ple_076.032
neuen Poeten anrichten müssen.“

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Zusammengefaßt also lautet die Lehre Herders: Anschaulichkeit der ple_076.034
Poesie ist Energie der Rede, durch welche wirkende Kraft dargestellt wird. ple_076.035
Das Konsekutive ist eine bloß äußere Form, die für den Inhalt der Poesie ple_076.036
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Man sieht: dem rationalistischen Kritiker, der aus einigen scharfgefaßten, ple_076.038
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[76/0090] ple_076.001 des einzelnen Zuges würde in den verschiedenen Künsten doch ple_076.002 wieder die gleiche sein. Ob der Künstler z. B. blaue Farbe malt oder das ple_076.003 Wort blau schreibt, würde keinen Unterschied machen. Denn auch in der ple_076.004 Poesie wird soviel malerisch angeschaut, wie es in einem Moment möglich ple_076.005 ist, und die Verschiedenheit beider Künste wäre mithin nur relativ. ple_076.006 Das Unzureichende dieser Grundansicht vom Wesen der Sprache, das Unzulängliche ple_076.007 der auf sie begründeten Lehre hat schon wenige Jahre nach dem Erscheinen ple_076.008 des Laokoon Herder im ersten kritischen Wäldchen hervorgehoben. ple_076.009 „Das Sukzessive in den Tönen ist nicht das Wesen der Dichtkunst“, heißt es ple_076.010 dort (Abschnitt 15). „Die artikulierten Töne haben in der Poesie nicht ple_076.011 eben dasselbe Verhältnis zu ihrem Bezeichneten, was in der Malerei Figuren ple_076.012 und Farben zu dem ihrigen haben.“ — „Die Poesie wirkt durch Kraft — ple_076.013 durch Kraft, die dem Worte beiwohnt, zwar durch das Ohr geht, aber unmittelbar ple_076.014 auf die Seele wirkt. Diese Kraft ist das Wesen der Poesie, nicht ple_076.015 aber das Koexistente oder die Sukzession. Bei keinem Zeichen muß das ple_076.016 Zeichen selbst, sondern der Sinn des Zeichens empfunden werden.“ Aus ple_076.017 dem Sukzessiven der Töne folgt wenig oder nichts. „Durch die Erzählung ple_076.018 vom Szepter des Agamemnon, vom Bogen des Pandarus wird eine anschauliche ple_076.019 Schilderung dieser Gegenstände nicht ersetzt, soll auch nicht ple_076.020 ersetzt werden. Homer erzählt nicht, um zu malen, sondern statt zu ple_076.021 malen, nicht weil Sukzession das Wesen dieser Kunst ist, sondern weil ple_076.022 dieses Wesen Energie, Kraft, nur in der Bewegung zutage treten kann. ple_076.023 „Lessing kann nicht sagen, es sei Homer mit seiner Geschichte des Bogens ple_076.024 um sein Bild und bloß um sein Bild zu tun gewesen. Um nichts minder ple_076.025 als hierum: die Stärke, die Kraft des Bogens war seine Sache; sie, und ple_076.026 nicht die Gestalt des Bogens gehört zum Gedicht, sie, und keine andere ple_076.027 Eigenschaft soll hier energisch mitwirken, daß wir, wenn nachher Pandarus ple_076.028 abdrückt, wenn nachher die Sehne schwirrt, der Pfeil trifft — um so mehr ple_076.029 den Pfeil empfinden.“ Und keinesfalls ist Lessing berechtigt, was vom ple_076.030 epischen Dichter gilt, ohne weiteres auf die übrigen Gedichtarten zu übertragen. ple_076.031 „Ich zittere vor dem Blutbade, das seine Sätze unter alten und ple_076.032 neuen Poeten anrichten müssen.“ ple_076.033 Zusammengefaßt also lautet die Lehre Herders: Anschaulichkeit der ple_076.034 Poesie ist Energie der Rede, durch welche wirkende Kraft dargestellt wird. ple_076.035 Das Konsekutive ist eine bloß äußere Form, die für den Inhalt der Poesie ple_076.036 nicht wesentlich ist und sie daher auch nicht absolut bindet. ple_076.037 Man sieht: dem rationalistischen Kritiker, der aus einigen scharfgefaßten, ple_076.038 aber engen Begriffen sein Gebäude errichtet, tritt der künstlerisch ple_076.039 empfindende Denker gegenüber, der, selbst wo er noch nicht ple_076.040 zu voller Klarheit kommt, doch überall volles innerliches Leben statt des ple_076.041 abstrakten Begriffs erfaßt. Freilich, auch Herder ist klarer und siegreicher ple_076.042 da, wo er die Unzulänglichkeit in der Lehre seines Vorgängers ple_076.043 nachweist als da, wo er seine eigene begründet. Und daher ist es immerhin

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Zitationshilfe: Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908, S. 76. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lehmann_poetik_1908/90>, abgerufen am 24.11.2024.