Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_082.001 ple_082.009 ple_082.018 ple_082.030 ple_082.001 ple_082.009 ple_082.018 ple_082.030 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0096" n="82"/><lb n="ple_082.001"/> Darstellung überhaupt, Stimmung und Gefühl, sondern durch die Stimmung, <lb n="ple_082.002"/> die er zu erwecken versteht, zwingt er uns, zu erleben, zu glauben und <lb n="ple_082.003"/> schließlich zu sehen, was er darstellt. Diese Gefühle und Stimmungen aber <lb n="ple_082.004"/> zu erregen vermag er nur durch die unmittelbare Kraft der Sprache, die <lb n="ple_082.005"/> Kraft, inneres Leben zu lebendigem Ausdruck zu bringen und eben hierdurch <lb n="ple_082.006"/> unsere Seele mit in Schwingungen zu versetzen. Was wir als <lb n="ple_082.007"/> Anschaulichkeit dichterischer Darstellung empfinden, ist auf dieses innere <lb n="ple_082.008"/> Leben zurückzuführen.</p> <p><lb n="ple_082.009"/> Ein Beispiel möge den Gedanken veranschaulichen: <lb n="ple_082.010"/> <hi rendition="#aq"><lg><l>Der Morgen kam; es scheuchten seine Tritte</l><lb n="ple_082.011"/><l>Den leisen Schlaf, der mich gelind umfing,</l><lb n="ple_082.012"/><l>Daß ich, erwacht, aus meiner stillen Hütte</l><lb n="ple_082.013"/><l>Den Berg hinauf mit frischer Seele ging;</l><lb n="ple_082.014"/><l>Ich freute mich bei einem jeden Schritte</l><lb n="ple_082.015"/><l>Der neuen Blume, die voll Tropfen hing;</l><lb n="ple_082.016"/><l>Der junge Tag erhob sich mit Entzücken,</l><lb n="ple_082.017"/><l>Und alles war erquickt, mich zu erquicken.</l></lg></hi></p> <p><lb n="ple_082.018"/> Diese Schilderung des Frühlingsmorgens, der erwachenden Natur, wird <lb n="ple_082.019"/> jedem, der sie liest, als ein höchst anschauliches Bild erscheinen. Und <lb n="ple_082.020"/> doch, wenn wir die Worte und Wendungen Goethes näher betrachten, so <lb n="ple_082.021"/> finden wir, daß kaum eines darunter unmittelbar eine sinnliche Anschauung <lb n="ple_082.022"/> hervorruft. <hi rendition="#g">Die neue Blume, die voll Tropfen hing,</hi> ist die einzige <lb n="ple_082.023"/> im hergebrachten Sinne anschauliche Wendung und „neue Blume“ ist wahrlich <lb n="ple_082.024"/> kein besonders sinnlich packender Ausdruck. Was die Worte bezeichnen, <lb n="ple_082.025"/> ist nur der Widerhall, das Erlebnis in der Seele des Dichters, <lb n="ple_082.026"/> die Morgenstimmung, die durch die Eindrücke der Natur hervorgerufen ist. <lb n="ple_082.027"/> Und eben hierdurch wird in dem Leser selbst diese Morgenstimmung so <lb n="ple_082.028"/> kraftvoll erweckt, daß er glaubt, das Bild der taufrischen Bergwiese vor <lb n="ple_082.029"/> sich zu sehen, über die der Dichter schreitet.</p> <p><lb n="ple_082.030"/> Ein entsprechendes Beispiel aus der epischen Poesie geben uns die <lb n="ple_082.031"/> ersten Strophen der Braut von Corinth: <lb n="ple_082.032"/> <hi rendition="#aq"><lg><l>Nach Corinthus von Athen gezogen</l><lb n="ple_082.033"/><l>Kam ein Jüngling, dort noch unbekannt.</l><lb n="ple_082.034"/><l>Einen Bürger hofft' er sich gewogen;</l><lb n="ple_082.035"/><l>Beide Väter waren gastverwandt,</l><lb n="ple_082.036"/><l>Hatten frühe schon</l><lb n="ple_082.037"/><l>Töchterchen und Sohn</l><lb n="ple_082.038"/><l>Braut und Bräutigam voraus genannt.<lb/> — — — — — — — — — — — — —</l></lg><lg><lb n="ple_082.039"/><l>Und schon lag das ganze Haus im Stillen,</l><lb n="ple_082.040"/><l>Vater, Töchter; nur die Mutter wacht;</l><lb n="ple_082.041"/><l>Sie empfängt den Gast mit bestem Willen,</l><lb n="ple_082.042"/><l>Gleich ins Prunkgemach wird er gebracht.</l><lb n="ple_082.043"/><l>Wein und Essen prangt,</l><lb n="ple_082.044"/><l>Eh' er es verlangt;</l><lb n="ple_082.045"/><l>So versorgend wünscht sie gute Nacht.</l></lg></hi></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [82/0096]
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Darstellung überhaupt, Stimmung und Gefühl, sondern durch die Stimmung, ple_082.002
die er zu erwecken versteht, zwingt er uns, zu erleben, zu glauben und ple_082.003
schließlich zu sehen, was er darstellt. Diese Gefühle und Stimmungen aber ple_082.004
zu erregen vermag er nur durch die unmittelbare Kraft der Sprache, die ple_082.005
Kraft, inneres Leben zu lebendigem Ausdruck zu bringen und eben hierdurch ple_082.006
unsere Seele mit in Schwingungen zu versetzen. Was wir als ple_082.007
Anschaulichkeit dichterischer Darstellung empfinden, ist auf dieses innere ple_082.008
Leben zurückzuführen.
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Ein Beispiel möge den Gedanken veranschaulichen: ple_082.010
Der Morgen kam; es scheuchten seine Tritte ple_082.011
Den leisen Schlaf, der mich gelind umfing, ple_082.012
Daß ich, erwacht, aus meiner stillen Hütte ple_082.013
Den Berg hinauf mit frischer Seele ging; ple_082.014
Ich freute mich bei einem jeden Schritte ple_082.015
Der neuen Blume, die voll Tropfen hing; ple_082.016
Der junge Tag erhob sich mit Entzücken, ple_082.017
Und alles war erquickt, mich zu erquicken.
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Diese Schilderung des Frühlingsmorgens, der erwachenden Natur, wird ple_082.019
jedem, der sie liest, als ein höchst anschauliches Bild erscheinen. Und ple_082.020
doch, wenn wir die Worte und Wendungen Goethes näher betrachten, so ple_082.021
finden wir, daß kaum eines darunter unmittelbar eine sinnliche Anschauung ple_082.022
hervorruft. Die neue Blume, die voll Tropfen hing, ist die einzige ple_082.023
im hergebrachten Sinne anschauliche Wendung und „neue Blume“ ist wahrlich ple_082.024
kein besonders sinnlich packender Ausdruck. Was die Worte bezeichnen, ple_082.025
ist nur der Widerhall, das Erlebnis in der Seele des Dichters, ple_082.026
die Morgenstimmung, die durch die Eindrücke der Natur hervorgerufen ist. ple_082.027
Und eben hierdurch wird in dem Leser selbst diese Morgenstimmung so ple_082.028
kraftvoll erweckt, daß er glaubt, das Bild der taufrischen Bergwiese vor ple_082.029
sich zu sehen, über die der Dichter schreitet.
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Ein entsprechendes Beispiel aus der epischen Poesie geben uns die ple_082.031
ersten Strophen der Braut von Corinth: ple_082.032
Nach Corinthus von Athen gezogen ple_082.033
Kam ein Jüngling, dort noch unbekannt. ple_082.034
Einen Bürger hofft' er sich gewogen; ple_082.035
Beide Väter waren gastverwandt, ple_082.036
Hatten frühe schon ple_082.037
Töchterchen und Sohn ple_082.038
Braut und Bräutigam voraus genannt.
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Und schon lag das ganze Haus im Stillen, ple_082.040
Vater, Töchter; nur die Mutter wacht; ple_082.041
Sie empfängt den Gast mit bestem Willen, ple_082.042
Gleich ins Prunkgemach wird er gebracht. ple_082.043
Wein und Essen prangt, ple_082.044
Eh' er es verlangt; ple_082.045
So versorgend wünscht sie gute Nacht.
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