Theile der Stadt verjüngten sich, und es schien, als ob eines zweiten Haussmann energische Hand gewaltet hätte. So wurden 1877 bis 1881 mehr als 700 Häuser demolirt, um die neue Rue Nationale durch das Quartier südlich der Kathedrale durchzubrechen, und ebenso mussten zur Erweiterung der Quais etwa 650 Gebäude expropriirt werden.
Die erweiterte Stadt bot nun auch den Communicationen den genügenden Raum; es entstanden grossartige Bahnhofanlagen, die sämmtlich unter einander und mit allen Bassins in Verbindung stehen. Der Hafenquai erhielt eine ununterbrochene Reihe von Hangars, längs der Bassins schuf man Magazine und stattete alle Anlegeplätze mit starken, auf Schienen laufenden hydraulischen Krahnen behufs Ein- und Ausladens schwerer Güter aus; die Benützung eines Krahnes kostet 20 Francs den Tag. Die grössten derselben haben eine Trag- fähigkeit von 40 Tonnen, und ein fixer Krahn von riesigen Dimensionen vermag Lasten bis zu 140 Tonnen zu heben. Dampfgangspille und andere Apparate und Maschinen vervollständigen die Ausstattung. Dadurch gewann der Handelsverkehr alle möglichen Hilfsmittel, und muss der Hafen zu den am besten eingerichteten der Erde ge- zählt werden. In Transit an- und abgehende Waggonladungen lagern in den Hangars längs der Quais unter Controle der Zoll- behörde, so dass die Platzkosten auf ein Minimum beschränkt sind.
Selbstverständlich verjüngte und verschönerte sich die Stadt, und in der neuen Umgebung erhöhte sich umsomehr der Glanz ihrer alten Kunstdenkmäler.
Das grösste Interesse beansprucht vor Allem die berühmte Kathedrale Liebfraukirche (7), die imposanteste und schönste Kirche in Belgien und vermöge des Adels ihrer Ausführung und der prächtigen inneren Ausstattung eines der bedeutendsten Denkmäler kirchlicher Baukunst in Europa überhaupt. Ihr Bau wurde 1352 begonnen und währte bis 1616. Von den beiden Thürmen verblieb der südliche unvollendet, der nördliche misst aber 123 m in der Höhe. Dessen Schönheit und Zierlichkeit lobend, meinte Karl V., der Thurm ver- diene in ein Schmuckkästchen gestellt zu werden. Die siebenschiffige Basilika bietet durch die Grossartigkeit ihrer Verhältnisse wie nicht minder durch die höchst malerische Perspective der 125 die Gewölbe stützenden Säulen einen selten schönen Anblick. Unter der reichen Zahl von Kunstwerken, welche die Kathedrale birgt, nehmen die drei Meisterwerke von Rubens: die Abnahme vom Kreuz, die Auf- richtung des Kreuzes und Himmelfahrt Mariae den ersten Rang ein.
Antwerpen.
Theile der Stadt verjüngten sich, und es schien, als ob eines zweiten Haussmann energische Hand gewaltet hätte. So wurden 1877 bis 1881 mehr als 700 Häuser demolirt, um die neue Rue Nationale durch das Quartier südlich der Kathedrale durchzubrechen, und ebenso mussten zur Erweiterung der Quais etwa 650 Gebäude expropriirt werden.
Die erweiterte Stadt bot nun auch den Communicationen den genügenden Raum; es entstanden grossartige Bahnhofanlagen, die sämmtlich unter einander und mit allen Bassins in Verbindung stehen. Der Hafenquai erhielt eine ununterbrochene Reihe von Hangars, längs der Bassins schuf man Magazine und stattete alle Anlegeplätze mit starken, auf Schienen laufenden hydraulischen Krahnen behufs Ein- und Ausladens schwerer Güter aus; die Benützung eines Krahnes kostet 20 Francs den Tag. Die grössten derselben haben eine Trag- fähigkeit von 40 Tonnen, und ein fixer Krahn von riesigen Dimensionen vermag Lasten bis zu 140 Tonnen zu heben. Dampfgangspille und andere Apparate und Maschinen vervollständigen die Ausstattung. Dadurch gewann der Handelsverkehr alle möglichen Hilfsmittel, und muss der Hafen zu den am besten eingerichteten der Erde ge- zählt werden. In Transit an- und abgehende Waggonladungen lagern in den Hangars längs der Quais unter Controle der Zoll- behörde, so dass die Platzkosten auf ein Minimum beschränkt sind.
Selbstverständlich verjüngte und verschönerte sich die Stadt, und in der neuen Umgebung erhöhte sich umsomehr der Glanz ihrer alten Kunstdenkmäler.
Das grösste Interesse beansprucht vor Allem die berühmte Kathedrale Liebfraukirche (7), die imposanteste und schönste Kirche in Belgien und vermöge des Adels ihrer Ausführung und der prächtigen inneren Ausstattung eines der bedeutendsten Denkmäler kirchlicher Baukunst in Europa überhaupt. Ihr Bau wurde 1352 begonnen und währte bis 1616. Von den beiden Thürmen verblieb der südliche unvollendet, der nördliche misst aber 123 m in der Höhe. Dessen Schönheit und Zierlichkeit lobend, meinte Karl V., der Thurm ver- diene in ein Schmuckkästchen gestellt zu werden. Die siebenschiffige Basilika bietet durch die Grossartigkeit ihrer Verhältnisse wie nicht minder durch die höchst malerische Perspective der 125 die Gewölbe stützenden Säulen einen selten schönen Anblick. Unter der reichen Zahl von Kunstwerken, welche die Kathedrale birgt, nehmen die drei Meisterwerke von Rubens: die Abnahme vom Kreuz, die Auf- richtung des Kreuzes und Himmelfahrt Mariae den ersten Rang ein.
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Antwerpen.
Theile der Stadt verjüngten sich, und es schien, als ob eines zweiten
Haussmann energische Hand gewaltet hätte. So wurden 1877 bis
1881 mehr als 700 Häuser demolirt, um die neue Rue Nationale durch
das Quartier südlich der Kathedrale durchzubrechen, und ebenso
mussten zur Erweiterung der Quais etwa 650 Gebäude expropriirt
werden.
Die erweiterte Stadt bot nun auch den Communicationen den
genügenden Raum; es entstanden grossartige Bahnhofanlagen, die
sämmtlich unter einander und mit allen Bassins in Verbindung stehen.
Der Hafenquai erhielt eine ununterbrochene Reihe von Hangars, längs
der Bassins schuf man Magazine und stattete alle Anlegeplätze mit
starken, auf Schienen laufenden hydraulischen Krahnen behufs Ein-
und Ausladens schwerer Güter aus; die Benützung eines Krahnes
kostet 20 Francs den Tag. Die grössten derselben haben eine Trag-
fähigkeit von 40 Tonnen, und ein fixer Krahn von riesigen Dimensionen
vermag Lasten bis zu 140 Tonnen zu heben. Dampfgangspille und
andere Apparate und Maschinen vervollständigen die Ausstattung.
Dadurch gewann der Handelsverkehr alle möglichen Hilfsmittel, und
muss der Hafen zu den am besten eingerichteten der Erde ge-
zählt werden. In Transit an- und abgehende Waggonladungen
lagern in den Hangars längs der Quais unter Controle der Zoll-
behörde, so dass die Platzkosten auf ein Minimum beschränkt sind.
Selbstverständlich verjüngte und verschönerte sich die Stadt,
und in der neuen Umgebung erhöhte sich umsomehr der Glanz ihrer
alten Kunstdenkmäler.
Das grösste Interesse beansprucht vor Allem die berühmte
Kathedrale Liebfraukirche (7), die imposanteste und schönste Kirche in
Belgien und vermöge des Adels ihrer Ausführung und der prächtigen
inneren Ausstattung eines der bedeutendsten Denkmäler kirchlicher
Baukunst in Europa überhaupt. Ihr Bau wurde 1352 begonnen und
währte bis 1616. Von den beiden Thürmen verblieb der südliche
unvollendet, der nördliche misst aber 123 m in der Höhe. Dessen
Schönheit und Zierlichkeit lobend, meinte Karl V., der Thurm ver-
diene in ein Schmuckkästchen gestellt zu werden. Die siebenschiffige
Basilika bietet durch die Grossartigkeit ihrer Verhältnisse wie nicht
minder durch die höchst malerische Perspective der 125 die Gewölbe
stützenden Säulen einen selten schönen Anblick. Unter der reichen
Zahl von Kunstwerken, welche die Kathedrale birgt, nehmen die
drei Meisterwerke von Rubens: die Abnahme vom Kreuz, die Auf-
richtung des Kreuzes und Himmelfahrt Mariae den ersten Rang ein.
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Lehnert, Josef von u. a.: Die Seehäfen des Weltverkehrs. Bd. 1. Wien, 1891, S. 653. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lehnert_seehaefen01_1891/673>, abgerufen am 22.11.2024.
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