Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Lenz, Jakob Michael Reinhold: Anmerkungen übers Theater, nebst angehängten übersetzten Stück Shakespears. Leipzig, 1774.

Bild:
<< vorherige Seite



hernach nichts mehr und nichts minder aus-
macht, als die Hauptperson, wie sie in der
ganzen Gruppe ihrer Mithändler hervor-
sticht. Bey uns also fabula est una si circa
unum sit.
Was können wir dafür, daß
wir an abgerissenen Handlungen kein Ver-
gnügen mehr finden, sondern alt genug wor-
den sind, ein Ganzes zu wünschen? daß wir
den Menschen sehen wollen, wo jene nur
das unwandelbare Schicksal und seine ge-
heimen Einflüsse sahen. Oder scheuen Sie
sich, meine Herren! einen Menschen zu
sehen?

Einheit des Orts -- oder möchten lieber
sagen, Einheit des Chors, denn was war
es anders? Kommen doch auf dem Griechi-
schen Theater die Leute wie gerufen und ge-
beten herbey, und kein Mensch stößt sich
daran. Weil wir uns freuen, daß Sie nur
da sind -- weil das Chor dafür da steht,
daß sie kommen sollen, und sich das im Kopf
eines Freundes geschwind zusammenreimt,
was wohl die causa prima und remotior der
Ankunft seines Freundes seyn möchte, wenn
er ihn eben in seinen Armen drückt.

Einheit der Zeit, worin Aristoteles gar
den wesentlichen Unterscheid des Trauerspiels
von der Epopee setzt. Am Ende des 5ten
Kapitels: "Die Epopee ist also bis auf den

Punkt



hernach nichts mehr und nichts minder aus-
macht, als die Hauptperſon, wie ſie in der
ganzen Gruppe ihrer Mithaͤndler hervor-
ſticht. Bey uns alſo fabula eſt una ſi circa
unum ſit.
Was koͤnnen wir dafuͤr, daß
wir an abgeriſſenen Handlungen kein Ver-
gnuͤgen mehr finden, ſondern alt genug wor-
den ſind, ein Ganzes zu wuͤnſchen? daß wir
den Menſchen ſehen wollen, wo jene nur
das unwandelbare Schickſal und ſeine ge-
heimen Einfluͤſſe ſahen. Oder ſcheuen Sie
ſich, meine Herren! einen Menſchen zu
ſehen?

Einheit des Orts — oder moͤchten lieber
ſagen, Einheit des Chors, denn was war
es anders? Kommen doch auf dem Griechi-
ſchen Theater die Leute wie gerufen und ge-
beten herbey, und kein Menſch ſtoͤßt ſich
daran. Weil wir uns freuen, daß Sie nur
da ſind — weil das Chor dafuͤr da ſteht,
daß ſie kommen ſollen, und ſich das im Kopf
eines Freundes geſchwind zuſammenreimt,
was wohl die cauſa prima und remotior der
Ankunft ſeines Freundes ſeyn moͤchte, wenn
er ihn eben in ſeinen Armen druͤckt.

Einheit der Zeit, worin Ariſtoteles gar
den weſentlichen Unterſcheid des Trauerſpiels
von der Epopee ſetzt. Am Ende des 5ten
Kapitels: „Die Epopee iſt alſo bis auf den

Punkt
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <p><pb facs="#f0036" n="30"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
hernach nichts mehr und nichts minder aus-<lb/>
macht, als die Hauptper&#x017F;on, wie &#x017F;ie in der<lb/>
ganzen Gruppe ihrer Mitha&#x0364;ndler hervor-<lb/>
&#x017F;ticht. Bey uns al&#x017F;o <hi rendition="#aq">fabula e&#x017F;t una &#x017F;i circa<lb/>
unum &#x017F;it.</hi> Was ko&#x0364;nnen wir dafu&#x0364;r, daß<lb/>
wir an abgeri&#x017F;&#x017F;enen Handlungen kein Ver-<lb/>
gnu&#x0364;gen mehr finden, &#x017F;ondern alt genug wor-<lb/>
den &#x017F;ind, ein Ganzes zu wu&#x0364;n&#x017F;chen? daß wir<lb/>
den Men&#x017F;chen &#x017F;ehen wollen, wo jene nur<lb/>
das unwandelbare Schick&#x017F;al und &#x017F;eine ge-<lb/>
heimen Einflu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e &#x017F;ahen. Oder &#x017F;cheuen Sie<lb/>
&#x017F;ich, meine Herren! einen Men&#x017F;chen zu<lb/>
&#x017F;ehen?</p><lb/>
        <p>Einheit des Orts &#x2014; oder mo&#x0364;chten lieber<lb/>
&#x017F;agen, Einheit des Chors, denn was war<lb/>
es anders? Kommen doch auf dem Griechi-<lb/>
&#x017F;chen Theater die Leute wie gerufen und ge-<lb/>
beten herbey, und kein Men&#x017F;ch &#x017F;to&#x0364;ßt &#x017F;ich<lb/>
daran. Weil wir uns freuen, daß Sie nur<lb/>
da &#x017F;ind &#x2014; weil das Chor dafu&#x0364;r da &#x017F;teht,<lb/>
daß &#x017F;ie kommen &#x017F;ollen, und &#x017F;ich das im Kopf<lb/>
eines Freundes ge&#x017F;chwind zu&#x017F;ammenreimt,<lb/>
was wohl die <hi rendition="#aq">cau&#x017F;a prima</hi> und <hi rendition="#aq">remotior</hi> der<lb/>
Ankunft &#x017F;eines Freundes &#x017F;eyn mo&#x0364;chte, wenn<lb/>
er ihn eben in &#x017F;einen Armen dru&#x0364;ckt.</p><lb/>
        <p>Einheit der Zeit, worin Ari&#x017F;toteles gar<lb/>
den we&#x017F;entlichen Unter&#x017F;cheid des Trauer&#x017F;piels<lb/>
von der Epopee &#x017F;etzt. Am Ende des 5ten<lb/>
Kapitels: &#x201E;Die Epopee i&#x017F;t al&#x017F;o bis auf den<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Punkt</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[30/0036] hernach nichts mehr und nichts minder aus- macht, als die Hauptperſon, wie ſie in der ganzen Gruppe ihrer Mithaͤndler hervor- ſticht. Bey uns alſo fabula eſt una ſi circa unum ſit. Was koͤnnen wir dafuͤr, daß wir an abgeriſſenen Handlungen kein Ver- gnuͤgen mehr finden, ſondern alt genug wor- den ſind, ein Ganzes zu wuͤnſchen? daß wir den Menſchen ſehen wollen, wo jene nur das unwandelbare Schickſal und ſeine ge- heimen Einfluͤſſe ſahen. Oder ſcheuen Sie ſich, meine Herren! einen Menſchen zu ſehen? Einheit des Orts — oder moͤchten lieber ſagen, Einheit des Chors, denn was war es anders? Kommen doch auf dem Griechi- ſchen Theater die Leute wie gerufen und ge- beten herbey, und kein Menſch ſtoͤßt ſich daran. Weil wir uns freuen, daß Sie nur da ſind — weil das Chor dafuͤr da ſteht, daß ſie kommen ſollen, und ſich das im Kopf eines Freundes geſchwind zuſammenreimt, was wohl die cauſa prima und remotior der Ankunft ſeines Freundes ſeyn moͤchte, wenn er ihn eben in ſeinen Armen druͤckt. Einheit der Zeit, worin Ariſtoteles gar den weſentlichen Unterſcheid des Trauerſpiels von der Epopee ſetzt. Am Ende des 5ten Kapitels: „Die Epopee iſt alſo bis auf den Punkt

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lenz_anmerkungen_1774
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lenz_anmerkungen_1774/36
Zitationshilfe: Lenz, Jakob Michael Reinhold: Anmerkungen übers Theater, nebst angehängten übersetzten Stück Shakespears. Leipzig, 1774, S. 30. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lenz_anmerkungen_1774/36>, abgerufen am 21.11.2024.