delt. Cäsar ist in Rom so nie bedauert worden, als unter den Händen Shakespears.
Wir sehen also, was der dramatische Dichter vor dem epischen gewinnt, wie kür- zern Weg zum Ziel, sein grosses Bild le- bendig zu machen, wenn er nur sichere Hand hat, in der Puls der Natur schlägt, vom göttlichen Genius geführt. Richter der Lebendigen und der Todten. -- Er braucht die Sinne nicht mit Witz und Flit- tern zu fesseln, das thut der Dekorationen- mahler für ihn, aller Kunstgriffe überhoben, schon eingeschattet von dem magischen Licht, auf das jener so viel Kosten verschwendet, führt er uns dahin, wo er wollte, ohne andern Aufwand zu machen, als was er so gern aufwendet, sein Genie. Hundert Sa- chen setzt er zum voraus, die ich hier nicht nennen mag -- und wie höher muß er flie- gen! Ach mir, daß ich die Geheimnisse unserer Kunst verrathen muß, den Flor weg- ziehen, der ihren Reitz so schön und scham- haft in seine Falten zurückbarg und doch viel- leicht noch zu wenig verrathen habe. Heut zu Tage, da man geniessen will, ohne das Maul aufzuthun, muß Venus Urania selbst zur Kokette werden -- fort! Rache!
Da wir am Fundament des Aristoteli- schen Schauspiels ein wenig gebrochen und
mit
delt. Caͤſar iſt in Rom ſo nie bedauert worden, als unter den Haͤnden Shakeſpears.
Wir ſehen alſo, was der dramatiſche Dichter vor dem epiſchen gewinnt, wie kuͤr- zern Weg zum Ziel, ſein groſſes Bild le- bendig zu machen, wenn er nur ſichere Hand hat, in der Puls der Natur ſchlaͤgt, vom goͤttlichen Genius gefuͤhrt. Richter der Lebendigen und der Todten. — Er braucht die Sinne nicht mit Witz und Flit- tern zu feſſeln, das thut der Dekorationen- mahler fuͤr ihn, aller Kunſtgriffe uͤberhoben, ſchon eingeſchattet von dem magiſchen Licht, auf das jener ſo viel Koſten verſchwendet, fuͤhrt er uns dahin, wo er wollte, ohne andern Aufwand zu machen, als was er ſo gern aufwendet, ſein Genie. Hundert Sa- chen ſetzt er zum voraus, die ich hier nicht nennen mag — und wie hoͤher muß er flie- gen! Ach mir, daß ich die Geheimniſſe unſerer Kunſt verrathen muß, den Flor weg- ziehen, der ihren Reitz ſo ſchoͤn und ſcham- haft in ſeine Falten zuruͤckbarg und doch viel- leicht noch zu wenig verrathen habe. Heut zu Tage, da man genieſſen will, ohne das Maul aufzuthun, muß Venus Urania ſelbſt zur Kokette werden — fort! Rache!
Da wir am Fundament des Ariſtoteli- ſchen Schauſpiels ein wenig gebrochen und
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delt. Caͤſar iſt in Rom ſo nie bedauert
worden, als unter den Haͤnden Shakeſpears.
Wir ſehen alſo, was der dramatiſche
Dichter vor dem epiſchen gewinnt, wie kuͤr-
zern Weg zum Ziel, ſein groſſes Bild le-
bendig zu machen, wenn er nur ſichere
Hand hat, in der Puls der Natur ſchlaͤgt,
vom goͤttlichen Genius gefuͤhrt. Richter
der Lebendigen und der Todten. — Er
braucht die Sinne nicht mit Witz und Flit-
tern zu feſſeln, das thut der Dekorationen-
mahler fuͤr ihn, aller Kunſtgriffe uͤberhoben,
ſchon eingeſchattet von dem magiſchen Licht,
auf das jener ſo viel Koſten verſchwendet,
fuͤhrt er uns dahin, wo er wollte, ohne
andern Aufwand zu machen, als was er ſo
gern aufwendet, ſein Genie. Hundert Sa-
chen ſetzt er zum voraus, die ich hier nicht
nennen mag — und wie hoͤher muß er flie-
gen! Ach mir, daß ich die Geheimniſſe
unſerer Kunſt verrathen muß, den Flor weg-
ziehen, der ihren Reitz ſo ſchoͤn und ſcham-
haft in ſeine Falten zuruͤckbarg und doch viel-
leicht noch zu wenig verrathen habe. Heut
zu Tage, da man genieſſen will, ohne das
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Da wir am Fundament des Ariſtoteli-
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Lenz, Jakob Michael Reinhold: Anmerkungen übers Theater, nebst angehängten übersetzten Stück Shakespears. Leipzig, 1774, S. 34. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lenz_anmerkungen_1774/40>, abgerufen am 16.07.2024.
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