Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Lenz, Jakob Michael Reinhold: Anmerkungen übers Theater, nebst angehängten übersetzten Stück Shakespears. Leipzig, 1774.

Bild:
<< vorherige Seite



heut zu Tage Volksgeschmack bleibt und bleiben
wird. Und da find ich, daß er beym Trauer-
spiele oder Staatsaktion, ist gleich viel, immer
drauf losstürmt (die Aesthetiker mögens hören
wollen oder nicht) das ist ein Kerl! das sind
Kerls! bey der Komödie aber ists ein anders.
Bey der geringfügigsten drollichten, possirli-
chen unerwarteten Begebenheit im gemeinen
Leben rufen die Blaffer mit seitwärts verkehr-
tem Kopf: Komödie! Das ist eine Komödie!
ächzen die alten Frauen. Die Hauptempfin-
dung in der Komödie ist immer die Begeben-
heit, die Hauptempfindung in der Tragödie ist
die Person, die Schöpfer ihrer Begebenheiten.

Also ganz und gar wider Madame Dacier
in ihrer Vorrede zum Terenz, der ich bey dieser
Gelegenheit höflichst die Hände küsse.

Das Trauerspiel bey uns war also nie wie
bey den Griechen das Mittel, merkwürdige
Begebenheiten auf die Nachwelt zu bringen,
sondern merkwürdige Personen. Zu jenem
hatten wir Chroniken, Romanzen, Feste, zu
diesem Vorstellung, Drama. Die Person mit
all ihren Nebenpersonen, Jnteresse, Leiden-
schaften, Handlungen. Und war sie todt, so
schloß das Stück, es müßte denn noch ihr Tod
Würkungen veranlaßt haben, die auf die Per-
son ein noch helleres Licht zurückwürfen. Daher
führen uns unsere ältesten Schauspieldichter
oft in einem Akt ohne Anstoß durch verschiede-
ne Jahre fort, sie wollen uns die ganze Person

in



heut zu Tage Volksgeſchmack bleibt und bleiben
wird. Und da find ich, daß er beym Trauer-
ſpiele oder Staatsaktion, iſt gleich viel, immer
drauf losſtuͤrmt (die Aeſthetiker moͤgens hoͤren
wollen oder nicht) das iſt ein Kerl! das ſind
Kerls! bey der Komoͤdie aber iſts ein anders.
Bey der geringfuͤgigſten drollichten, poſſirli-
chen unerwarteten Begebenheit im gemeinen
Leben rufen die Blaffer mit ſeitwaͤrts verkehr-
tem Kopf: Komoͤdie! Das iſt eine Komoͤdie!
aͤchzen die alten Frauen. Die Hauptempfin-
dung in der Komoͤdie iſt immer die Begeben-
heit, die Hauptempfindung in der Tragoͤdie iſt
die Perſon, die Schoͤpfer ihrer Begebenheiten.

Alſo ganz und gar wider Madame Dacier
in ihrer Vorrede zum Terenz, der ich bey dieſer
Gelegenheit hoͤflichſt die Haͤnde kuͤſſe.

Das Trauerſpiel bey uns war alſo nie wie
bey den Griechen das Mittel, merkwuͤrdige
Begebenheiten auf die Nachwelt zu bringen,
ſondern merkwuͤrdige Perſonen. Zu jenem
hatten wir Chroniken, Romanzen, Feſte, zu
dieſem Vorſtellung, Drama. Die Perſon mit
all ihren Nebenperſonen, Jntereſſe, Leiden-
ſchaften, Handlungen. Und war ſie todt, ſo
ſchloß das Stuͤck, es muͤßte denn noch ihr Tod
Wuͤrkungen veranlaßt haben, die auf die Per-
ſon ein noch helleres Licht zuruͤckwuͤrfen. Daher
fuͤhren uns unſere aͤlteſten Schauſpieldichter
oft in einem Akt ohne Anſtoß durch verſchiede-
ne Jahre fort, ſie wollen uns die ganze Perſon

in
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <p><pb facs="#f0058" n="52"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
heut zu Tage Volksge&#x017F;chmack bleibt und bleiben<lb/>
wird. Und da find ich, daß er beym Trauer-<lb/>
&#x017F;piele oder Staatsaktion, i&#x017F;t gleich viel, immer<lb/>
drauf los&#x017F;tu&#x0364;rmt (die Ae&#x017F;thetiker mo&#x0364;gens ho&#x0364;ren<lb/>
wollen oder nicht) das i&#x017F;t ein Kerl! das &#x017F;ind<lb/>
Kerls! bey der Komo&#x0364;die aber i&#x017F;ts ein anders.<lb/>
Bey der geringfu&#x0364;gig&#x017F;ten drollichten, po&#x017F;&#x017F;irli-<lb/>
chen unerwarteten Begebenheit im gemeinen<lb/>
Leben rufen die Blaffer mit &#x017F;eitwa&#x0364;rts verkehr-<lb/>
tem Kopf: Komo&#x0364;die! Das i&#x017F;t eine Komo&#x0364;die!<lb/>
a&#x0364;chzen die alten Frauen. Die Hauptempfin-<lb/>
dung in der Komo&#x0364;die i&#x017F;t immer die Begeben-<lb/>
heit, die Hauptempfindung in der Trago&#x0364;die i&#x017F;t<lb/>
die Per&#x017F;on, die Scho&#x0364;pfer ihrer Begebenheiten.</p><lb/>
        <p>Al&#x017F;o ganz und gar wider Madame Dacier<lb/>
in ihrer Vorrede zum Terenz, der ich bey die&#x017F;er<lb/>
Gelegenheit ho&#x0364;flich&#x017F;t die Ha&#x0364;nde ku&#x0364;&#x017F;&#x017F;e.</p><lb/>
        <p>Das Trauer&#x017F;piel bey uns war al&#x017F;o nie wie<lb/>
bey den Griechen das Mittel, merkwu&#x0364;rdige<lb/>
Begebenheiten auf die Nachwelt zu bringen,<lb/>
&#x017F;ondern merkwu&#x0364;rdige Per&#x017F;onen. Zu jenem<lb/>
hatten wir Chroniken, Romanzen, Fe&#x017F;te, zu<lb/>
die&#x017F;em Vor&#x017F;tellung, Drama. Die Per&#x017F;on mit<lb/>
all ihren Nebenper&#x017F;onen, Jntere&#x017F;&#x017F;e, Leiden-<lb/>
&#x017F;chaften, Handlungen. Und war &#x017F;ie todt, &#x017F;o<lb/>
&#x017F;chloß das Stu&#x0364;ck, es mu&#x0364;ßte denn noch ihr Tod<lb/>
Wu&#x0364;rkungen veranlaßt haben, die auf die Per-<lb/>
&#x017F;on ein noch helleres Licht zuru&#x0364;ckwu&#x0364;rfen. Daher<lb/>
fu&#x0364;hren uns un&#x017F;ere a&#x0364;lte&#x017F;ten Schau&#x017F;pieldichter<lb/>
oft in einem Akt ohne An&#x017F;toß durch ver&#x017F;chiede-<lb/>
ne Jahre fort, &#x017F;ie wollen uns die ganze Per&#x017F;on<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">in</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[52/0058] heut zu Tage Volksgeſchmack bleibt und bleiben wird. Und da find ich, daß er beym Trauer- ſpiele oder Staatsaktion, iſt gleich viel, immer drauf losſtuͤrmt (die Aeſthetiker moͤgens hoͤren wollen oder nicht) das iſt ein Kerl! das ſind Kerls! bey der Komoͤdie aber iſts ein anders. Bey der geringfuͤgigſten drollichten, poſſirli- chen unerwarteten Begebenheit im gemeinen Leben rufen die Blaffer mit ſeitwaͤrts verkehr- tem Kopf: Komoͤdie! Das iſt eine Komoͤdie! aͤchzen die alten Frauen. Die Hauptempfin- dung in der Komoͤdie iſt immer die Begeben- heit, die Hauptempfindung in der Tragoͤdie iſt die Perſon, die Schoͤpfer ihrer Begebenheiten. Alſo ganz und gar wider Madame Dacier in ihrer Vorrede zum Terenz, der ich bey dieſer Gelegenheit hoͤflichſt die Haͤnde kuͤſſe. Das Trauerſpiel bey uns war alſo nie wie bey den Griechen das Mittel, merkwuͤrdige Begebenheiten auf die Nachwelt zu bringen, ſondern merkwuͤrdige Perſonen. Zu jenem hatten wir Chroniken, Romanzen, Feſte, zu dieſem Vorſtellung, Drama. Die Perſon mit all ihren Nebenperſonen, Jntereſſe, Leiden- ſchaften, Handlungen. Und war ſie todt, ſo ſchloß das Stuͤck, es muͤßte denn noch ihr Tod Wuͤrkungen veranlaßt haben, die auf die Per- ſon ein noch helleres Licht zuruͤckwuͤrfen. Daher fuͤhren uns unſere aͤlteſten Schauſpieldichter oft in einem Akt ohne Anſtoß durch verſchiede- ne Jahre fort, ſie wollen uns die ganze Perſon in

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lenz_anmerkungen_1774
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lenz_anmerkungen_1774/58
Zitationshilfe: Lenz, Jakob Michael Reinhold: Anmerkungen übers Theater, nebst angehängten übersetzten Stück Shakespears. Leipzig, 1774, S. 52. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lenz_anmerkungen_1774/58>, abgerufen am 04.12.2024.