Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Lenz, Jakob Michael Reinhold: Anmerkungen übers Theater, nebst angehängten übersetzten Stück Shakespears. Leipzig, 1774.

Bild:
<< vorherige Seite



in allen ihren Verhältnissen zeigen, ja Hanns
Sachse findt so wenig Bedenklichkeiten drin,
seine geduldige Griselda in einem Auftritte
freyen, heyrathen, schwanger werden und ge-
bähren zu lassen, daß er vielmehr im Prolog
seine Zuschauer für der allzustarken Jllusion
warnet und ihnen auf sein Ehrenwort versi-
chert, daß alle Sachen so eingericht, daß kei-
nem Menschen ein Schaden geschicht. Woher
das Zutrauen zu der Einbildungskraft seines
Publikums? Weil er sicher war, daß sie sich
aus der nehmlichen Absicht dort versammlet
hatten, aus der er aufgetreten war, ihnen ei-
nen Menschen zu zeigen, nicht eine Viertel-
stunde.

So ists mit den historischen Stücken Sha-
kespears: hier möchte ich Charakter stücke
sagen, wenn das Wort nicht so gemisbraucht
wäre. Die Mumie des alten Helden, die der
Biograph einsalbt und spezereyt, in die der
Poet seinen Geist haucht. Da steht er wieder
auf, der edle Todte, in verklärter Schöne geht
er aus den Geschichtbüchern hervor und lebt
mit uns zum andernmahle. O wo finde ich
Worte, diese herzliche Empfindung für die auf-
erstandenen Todten anzudeuten -- und soll-
ten wir ihnen nicht mit Freuden nach Alexan-
drien, nach Rom, in alle Vorfallenheiten ih-
res Lebens folgen und das: seelig sind die Au-
gen, die dich gesehen haben, nun für uns be-
halten? Habt ihr nicht Lust ihnen zuzusehen,

mei-
D 3



in allen ihren Verhaͤltniſſen zeigen, ja Hanns
Sachſe findt ſo wenig Bedenklichkeiten drin,
ſeine geduldige Griſelda in einem Auftritte
freyen, heyrathen, ſchwanger werden und ge-
baͤhren zu laſſen, daß er vielmehr im Prolog
ſeine Zuſchauer fuͤr der allzuſtarken Jlluſion
warnet und ihnen auf ſein Ehrenwort verſi-
chert, daß alle Sachen ſo eingericht, daß kei-
nem Menſchen ein Schaden geſchicht. Woher
das Zutrauen zu der Einbildungskraft ſeines
Publikums? Weil er ſicher war, daß ſie ſich
aus der nehmlichen Abſicht dort verſammlet
hatten, aus der er aufgetreten war, ihnen ei-
nen Menſchen zu zeigen, nicht eine Viertel-
ſtunde.

So iſts mit den hiſtoriſchen Stuͤcken Sha-
keſpears: hier moͤchte ich Charakter ſtuͤcke
ſagen, wenn das Wort nicht ſo gemisbraucht
waͤre. Die Mumie des alten Helden, die der
Biograph einſalbt und ſpezereyt, in die der
Poet ſeinen Geiſt haucht. Da ſteht er wieder
auf, der edle Todte, in verklaͤrter Schoͤne geht
er aus den Geſchichtbuͤchern hervor und lebt
mit uns zum andernmahle. O wo finde ich
Worte, dieſe herzliche Empfindung fuͤr die auf-
erſtandenen Todten anzudeuten — und ſoll-
ten wir ihnen nicht mit Freuden nach Alexan-
drien, nach Rom, in alle Vorfallenheiten ih-
res Lebens folgen und das: ſeelig ſind die Au-
gen, die dich geſehen haben, nun fuͤr uns be-
halten? Habt ihr nicht Luſt ihnen zuzuſehen,

mei-
D 3
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <p><pb facs="#f0059" n="53"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
in allen ihren Verha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;en zeigen, ja Hanns<lb/>
Sach&#x017F;e findt &#x017F;o wenig Bedenklichkeiten drin,<lb/>
&#x017F;eine geduldige Gri&#x017F;elda in einem <hi rendition="#g">Auftritte</hi><lb/>
freyen, heyrathen, &#x017F;chwanger werden und ge-<lb/>
ba&#x0364;hren zu la&#x017F;&#x017F;en, daß er vielmehr im Prolog<lb/>
&#x017F;eine Zu&#x017F;chauer fu&#x0364;r der allzu&#x017F;tarken Jllu&#x017F;ion<lb/>
warnet und ihnen auf &#x017F;ein Ehrenwort ver&#x017F;i-<lb/>
chert, daß alle Sachen &#x017F;o eingericht, daß kei-<lb/>
nem Men&#x017F;chen ein Schaden ge&#x017F;chicht. Woher<lb/>
das Zutrauen zu der Einbildungskraft &#x017F;eines<lb/>
Publikums? Weil er &#x017F;icher war, daß &#x017F;ie &#x017F;ich<lb/>
aus der nehmlichen Ab&#x017F;icht dort ver&#x017F;ammlet<lb/>
hatten, aus der er aufgetreten war, ihnen ei-<lb/>
nen Men&#x017F;chen zu zeigen, nicht eine Viertel-<lb/>
&#x017F;tunde.</p><lb/>
        <p>So i&#x017F;ts mit den hi&#x017F;tori&#x017F;chen Stu&#x0364;cken Sha-<lb/>
ke&#x017F;pears: hier mo&#x0364;chte ich <hi rendition="#g">Charakter</hi> &#x017F;tu&#x0364;cke<lb/>
&#x017F;agen, wenn das Wort nicht &#x017F;o gemisbraucht<lb/>
wa&#x0364;re. Die Mumie des alten Helden, die der<lb/>
Biograph ein&#x017F;albt und &#x017F;pezereyt, in die der<lb/>
Poet &#x017F;einen Gei&#x017F;t haucht. Da &#x017F;teht er wieder<lb/>
auf, der edle Todte, in verkla&#x0364;rter Scho&#x0364;ne geht<lb/>
er aus den Ge&#x017F;chichtbu&#x0364;chern hervor und lebt<lb/>
mit uns zum andernmahle. O wo finde ich<lb/>
Worte, die&#x017F;e herzliche Empfindung fu&#x0364;r die auf-<lb/>
er&#x017F;tandenen Todten anzudeuten &#x2014; und &#x017F;oll-<lb/>
ten wir ihnen nicht mit Freuden nach Alexan-<lb/>
drien, nach Rom, in alle Vorfallenheiten ih-<lb/>
res Lebens folgen und das: &#x017F;eelig &#x017F;ind die Au-<lb/>
gen, die dich ge&#x017F;ehen haben, nun fu&#x0364;r uns be-<lb/>
halten? Habt ihr nicht Lu&#x017F;t ihnen zuzu&#x017F;ehen,<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">D 3</fw><fw place="bottom" type="catch">mei-</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[53/0059] in allen ihren Verhaͤltniſſen zeigen, ja Hanns Sachſe findt ſo wenig Bedenklichkeiten drin, ſeine geduldige Griſelda in einem Auftritte freyen, heyrathen, ſchwanger werden und ge- baͤhren zu laſſen, daß er vielmehr im Prolog ſeine Zuſchauer fuͤr der allzuſtarken Jlluſion warnet und ihnen auf ſein Ehrenwort verſi- chert, daß alle Sachen ſo eingericht, daß kei- nem Menſchen ein Schaden geſchicht. Woher das Zutrauen zu der Einbildungskraft ſeines Publikums? Weil er ſicher war, daß ſie ſich aus der nehmlichen Abſicht dort verſammlet hatten, aus der er aufgetreten war, ihnen ei- nen Menſchen zu zeigen, nicht eine Viertel- ſtunde. So iſts mit den hiſtoriſchen Stuͤcken Sha- keſpears: hier moͤchte ich Charakter ſtuͤcke ſagen, wenn das Wort nicht ſo gemisbraucht waͤre. Die Mumie des alten Helden, die der Biograph einſalbt und ſpezereyt, in die der Poet ſeinen Geiſt haucht. Da ſteht er wieder auf, der edle Todte, in verklaͤrter Schoͤne geht er aus den Geſchichtbuͤchern hervor und lebt mit uns zum andernmahle. O wo finde ich Worte, dieſe herzliche Empfindung fuͤr die auf- erſtandenen Todten anzudeuten — und ſoll- ten wir ihnen nicht mit Freuden nach Alexan- drien, nach Rom, in alle Vorfallenheiten ih- res Lebens folgen und das: ſeelig ſind die Au- gen, die dich geſehen haben, nun fuͤr uns be- halten? Habt ihr nicht Luſt ihnen zuzuſehen, mei- D 3

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lenz_anmerkungen_1774
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lenz_anmerkungen_1774/59
Zitationshilfe: Lenz, Jakob Michael Reinhold: Anmerkungen übers Theater, nebst angehängten übersetzten Stück Shakespears. Leipzig, 1774, S. 53. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lenz_anmerkungen_1774/59>, abgerufen am 11.12.2024.