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Leskien, August: Die Declination im Slavisch-Litauischen und Germanischen. Leipzig, 1876.

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ii. Die Casus des Plurals.
sei, welches solche Abstracta in allen indogermanischen Sprachen bildet (phuge,
eleutheria), wird uns geneigt machen, die Entwicklung des -an- auch hier
für specifisch germanisch zu halten. Es fragt sich nur, ob wir auch hier die Ver-
anlassung zu dieser Weiterbildung mit -n- nachweisen können. Der Entschei-
dung lässt sich nur nahe kommen, wenn man zugleich die Feminina auf -ein- in
Betracht zieht; sie sind viel zahlreicher und entsprechen den Abstracten anderer
Sprachen auf -ja.

Diese Feminina auf -ein-, ihre Zahl ist c. 100, sind mit Ausnahme von
aithein-, kilthein-, hvairnein-, thramstein-, marein- sämmtlich Abstracta zu Adjec-
tiven oder vereinzelter zu Substantiven (wie godein- zu goda-, vitvodein- zu vit-
vodja-
oder vitvod-). Nun vergleiche man folgende Stellen:

Phil. 2, 1: ei tina splagkhna kai oiktirmoi -- jabai hvo milditho jah gablei-
theino
, also nom. sg. gableitheins, St. gableitheini-, anzusehen als Verbalabstractum
zu gableithjan sich erbarmen.

Röm. 12, 1: dia ton oiktirmon -- thairh bleithein guths (im Got. steht der
acc. sg.); Col. 3, 12: endusasthe ... splagkhna oiktirmon, khrestoteta -- ga-
hamoth .... brusts, bleithein, armahairtein (im Got. der Text abweichend, über-
setzt ist der acc. sg.); II. Cor. 1, 3: o pater ton oiktirmon -- atta bleitheino.
Nach den Formen dieser drei Stellen könnte man mit vollem Rechte als nom. sg.
bleitheins, St. bleitheini-, Verbalabstractum zu bleithjan ansetzen, und ich sehe
allerdings gar keinen Grund ein, warum man das nicht thut. Es findet sich zwar
der nom. sg. bleithei, St. also bleithein-, einmal Gal. 5, 22, übersetzt aber dort
nicht oiktirmoi, sondern agathosune, ist also Abstractum zum Adjectiv bleiths,
St. bleithja- und gedacht wie das griechische Wort im Verhältniss zu agathos.
Die Bedeutungsverschiedenheit, wenn auch nicht gross, berechtigt entschieden,
zwei Worte: bleithei und bleitheins anzunehmen, während die Lexica nur bleithei
neben gableitheins aufführen; belehrend ist aber, dass GaLö den nom. als ga-
bleithei
ansetzen und gableitheins mit einem Fragezeichen dazu stellen. Das näm-
lich zeigen die angeführten Stellen klar, dass der Bedeutungsunterschied zwischen
einem Verbalabstractum auf -eini- von schwachem Verbum auf -jan- und einem
Abstractum auf -ein- zu einem Adjectivstamm sehr gering sein und man, wo
nur einzelne Formen überliefert sind, in Verlegenheit sein kann, wie Stamm
und Nominativ zu bestimmen. Das Zusammenfallen der Bedeutung wird fast
jedesmal dann stattfinden, wenn in der Sprache ein Adjectiv und ein davon ab-
geleitetes schwaches Verbum neben einander vorhanden sind. Dass dies nicht
bloss in der Theorie als möglich gedacht werden kann, sondern wirklich vor-
kommt, lässt sich aus dem Gotischen leicht nachweisen:

Joh. 10, 33 muss man wegen des gen. vajamereins den nom. sg. als vaja-
merei
(blasphemia), folglich als St. vajamerein- ansetzen, und als Grundlage ein
wie vaila-mers, St. -merja-, gebildetes *vajamers annehmen; Marc. 7, 22 steht
aber der nom. sg. vajamereins, folglich St. mereini-, als Verbalabstractum zu
vajamerjan, das wirklich vorkommt; die Bedeutung ist ganz dieselbe. Ebenso
verhält es sich mit vitvodein- und vitvodeini-, ersteres auf vitvods, letzteres auf
vitvodjan zu beziehen. Gerade so gut aber, wie es hier einerlei war, welche

ii. Die Casus des Plurals.
sei, welches solche Abstracta in allen indogermanischen Sprachen bildet (φυγή,
ἐλευϑερία), wird uns geneigt machen, die Entwicklung des -ān- auch hier
für specifisch germanisch zu halten. Es fragt sich nur, ob wir auch hier die Ver-
anlassung zu dieser Weiterbildung mit -n- nachweisen können. Der Entschei-
dung lässt sich nur nahe kommen, wenn man zugleich die Feminina auf -ein- in
Betracht zieht; sie sind viel zahlreicher und entsprechen den Abstracten anderer
Sprachen auf -.

Diese Feminina auf -ein-, ihre Zahl ist c. 100, sind mit Ausnahme von
aiþein-, kilþein-, hvairnein-, þramstein-, marein- sämmtlich Abstracta zu Adjec-
tiven oder vereinzelter zu Substantiven (wie godein- zu goda-, vitvodein- zu vit-
vodja-
oder vitvod-). Nun vergleiche man folgende Stellen:

Phil. 2, 1: εἴ τινα σπλάγχνα καὶ οἰκτιρμοί — jabai hvo mildiþo jah gablei-
þeino
, also nom. sg. gableiþeins, St. gableiþeini-, anzusehen als Verbalabstractum
zu gableiþjan sich erbarmen.

Röm. 12, 1: διὰ τῶν οἰκτιρμῶν — þairh bleiþein guþs (im Got. steht der
acc. sg.); Col. 3, 12: ἐνδύσασϑε … σπλάγχνα οἰκτιρμῶν, χρηστότητα — ga-
hamoþ .... brusts, bleiþein, armahairtein (im Got. der Text abweichend, über-
setzt ist der acc. sg.); II. Cor. 1, 3: ὁ πατὴρ τῶν οἰκτιρμῶν — atta bleiþeino.
Nach den Formen dieser drei Stellen könnte man mit vollem Rechte als nom. sg.
bleiþeins, St. bleiþeini-, Verbalabstractum zu bleiþjan ansetzen, und ich sehe
allerdings gar keinen Grund ein, warum man das nicht thut. Es findet sich zwar
der nom. sg. bleiþei, St. also bleiþein-, einmal Gal. 5, 22, übersetzt aber dort
nicht οἰκτιρμοί, sondern ἀγαϑοσύνη, ist also Abstractum zum Adjectiv bleiþs,
St. bleiþja- und gedacht wie das griechische Wort im Verhältniss zu ἀγαϑός.
Die Bedeutungsverschiedenheit, wenn auch nicht gross, berechtigt entschieden,
zwei Worte: bleiþei und bleiþeins anzunehmen, während die Lexica nur bleiþei
neben gableiþeins aufführen; belehrend ist aber, dass GaLö den nom. als ga-
bleiþei
ansetzen und gableiþeins mit einem Fragezeichen dazu stellen. Das näm-
lich zeigen die angeführten Stellen klar, dass der Bedeutungsunterschied zwischen
einem Verbalabstractum auf -eini- von schwachem Verbum auf -jan- und einem
Abstractum auf -ein- zu einem Adjectivstamm sehr gering sein und man, wo
nur einzelne Formen überliefert sind, in Verlegenheit sein kann, wie Stamm
und Nominativ zu bestimmen. Das Zusammenfallen der Bedeutung wird fast
jedesmal dann stattfinden, wenn in der Sprache ein Adjectiv und ein davon ab-
geleitetes schwaches Verbum neben einander vorhanden sind. Dass dies nicht
bloss in der Theorie als möglich gedacht werden kann, sondern wirklich vor-
kommt, lässt sich aus dem Gotischen leicht nachweisen:

Joh. 10, 33 muss man wegen des gen. vajamereins den nom. sg. als vaja-
merei
(βλασφημία), folglich als St. vajamerein- ansetzen, und als Grundlage ein
wie vaila-mers, St. -merja-, gebildetes *vajamers annehmen; Marc. 7, 22 steht
aber der nom. sg. vajamereins, folglich St. mereini-, als Verbalabstractum zu
vajamerjan, das wirklich vorkommt; die Bedeutung ist ganz dieselbe. Ebenso
verhält es sich mit vitvodein- und vitvodeini-, ersteres auf vitvods, letzteres auf
vitvodjan zu beziehen. Gerade so gut aber, wie es hier einerlei war, welche

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[95/0131] ii. Die Casus des Plurals. sei, welches solche Abstracta in allen indogermanischen Sprachen bildet (φυγή, ἐλευϑερία), wird uns geneigt machen, die Entwicklung des -ān- auch hier für specifisch germanisch zu halten. Es fragt sich nur, ob wir auch hier die Ver- anlassung zu dieser Weiterbildung mit -n- nachweisen können. Der Entschei- dung lässt sich nur nahe kommen, wenn man zugleich die Feminina auf -ein- in Betracht zieht; sie sind viel zahlreicher und entsprechen den Abstracten anderer Sprachen auf -jā. Diese Feminina auf -ein-, ihre Zahl ist c. 100, sind mit Ausnahme von aiþein-, kilþein-, hvairnein-, þramstein-, marein- sämmtlich Abstracta zu Adjec- tiven oder vereinzelter zu Substantiven (wie godein- zu goda-, vitvodein- zu vit- vodja- oder vitvod-). Nun vergleiche man folgende Stellen: Phil. 2, 1: εἴ τινα σπλάγχνα καὶ οἰκτιρμοί — jabai hvo mildiþo jah gablei- þeino, also nom. sg. gableiþeins, St. gableiþeini-, anzusehen als Verbalabstractum zu gableiþjan sich erbarmen. Röm. 12, 1: διὰ τῶν οἰκτιρμῶν — þairh bleiþein guþs (im Got. steht der acc. sg.); Col. 3, 12: ἐνδύσασϑε … σπλάγχνα οἰκτιρμῶν, χρηστότητα — ga- hamoþ .... brusts, bleiþein, armahairtein (im Got. der Text abweichend, über- setzt ist der acc. sg.); II. Cor. 1, 3: ὁ πατὴρ τῶν οἰκτιρμῶν — atta bleiþeino. Nach den Formen dieser drei Stellen könnte man mit vollem Rechte als nom. sg. bleiþeins, St. bleiþeini-, Verbalabstractum zu bleiþjan ansetzen, und ich sehe allerdings gar keinen Grund ein, warum man das nicht thut. Es findet sich zwar der nom. sg. bleiþei, St. also bleiþein-, einmal Gal. 5, 22, übersetzt aber dort nicht οἰκτιρμοί, sondern ἀγαϑοσύνη, ist also Abstractum zum Adjectiv bleiþs, St. bleiþja- und gedacht wie das griechische Wort im Verhältniss zu ἀγαϑός. Die Bedeutungsverschiedenheit, wenn auch nicht gross, berechtigt entschieden, zwei Worte: bleiþei und bleiþeins anzunehmen, während die Lexica nur bleiþei neben gableiþeins aufführen; belehrend ist aber, dass GaLö den nom. als ga- bleiþei ansetzen und gableiþeins mit einem Fragezeichen dazu stellen. Das näm- lich zeigen die angeführten Stellen klar, dass der Bedeutungsunterschied zwischen einem Verbalabstractum auf -eini- von schwachem Verbum auf -jan- und einem Abstractum auf -ein- zu einem Adjectivstamm sehr gering sein und man, wo nur einzelne Formen überliefert sind, in Verlegenheit sein kann, wie Stamm und Nominativ zu bestimmen. Das Zusammenfallen der Bedeutung wird fast jedesmal dann stattfinden, wenn in der Sprache ein Adjectiv und ein davon ab- geleitetes schwaches Verbum neben einander vorhanden sind. Dass dies nicht bloss in der Theorie als möglich gedacht werden kann, sondern wirklich vor- kommt, lässt sich aus dem Gotischen leicht nachweisen: Joh. 10, 33 muss man wegen des gen. vajamereins den nom. sg. als vaja- merei (βλασφημία), folglich als St. vajamerein- ansetzen, und als Grundlage ein wie vaila-mers, St. -merja-, gebildetes *vajamers annehmen; Marc. 7, 22 steht aber der nom. sg. vajamereins, folglich St. mereini-, als Verbalabstractum zu vajamerjan, das wirklich vorkommt; die Bedeutung ist ganz dieselbe. Ebenso verhält es sich mit vitvodein- und vitvodeini-, ersteres auf vitvods, letzteres auf vitvodjan zu beziehen. Gerade so gut aber, wie es hier einerlei war, welche

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Zitationshilfe: Leskien, August: Die Declination im Slavisch-Litauischen und Germanischen. Leipzig, 1876, S. 95. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/leskien_declination_1876/131>, abgerufen am 21.11.2024.