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Leskien, August: Die Declination im Slavisch-Litauischen und Germanischen. Leipzig, 1876.

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Einleitung.
lichkeit der altbulgarischen Quellen für cetyrje (chietyrie) = cetyrije (chietyr'ie)
stehen kann. Im Slavischen und Litauischen fallen nun die i-Formen in die all-
gemeine Regel dieser Sprachen, die alten consonantischen Formen ausser in No-
minativen, Genitiven und zuweilen Accusativen durch die Formen der i-Stämme
zu ersetzen. Es ist daher ganz zweifelhaft, ob irgend ein historischer Zusammen-
hang mit den germanischen Formen stattfinde.

Von weit grösserem Gewicht sind die weiteren bei Schmidt S. 7 angeführten
Punkte: die Zahlbildung mit got. -lif, -lib, lit. -lika, das gleiche Wort für die
Zahl 1000, die Verwendung des nasalen Suffixes oder Infixes zur Präsensbildung
mit inchoativer oder passivisch-intransitiver Bedeutung, Punkte, die ich hier
nicht weiter auszuführen brauche. Rechnet man dazu noch besondere Eigen-
thümlichkeiten in stammbildenden Suffixen wie das gemeinsame -iska- u. a.,
ferner diejenigen Uebereinstimmungen zwischen Slavisch-litauisch und Ger-
manisch, die beide Familien nach der bisher geltenden Anschauung als zur euro-
päischen Abtheilung gehörig characterisiren, so scheint es mir zum wenigsten
noch eine plausible Vermuthung zu sein, dass dem Slavisch-litauischen und Ger-
manischen eine besondere Entwicklungsgeschichte zuzuschreiben sei. Wir haben
noch, und darauf kommt es mir hier an, das Recht, den Versuch zu machen, ob
das Litauisch-slavische sich mit dem Germanischen zu einer besonderen Gruppe
mit einer vom Ganzen des Sprachstammes oder anderen Theilen desselben ge-
trennten Entwicklung vereinigen lasse. Das Gelingen eines solchen Versuches
bleibt dabei natürlich ganz dahingestellt.

Fragt man sich, von welcher Seite her dieser Versuch am zweckmässigsten
anzustellen sei, so darf der Wortschatz, wie oben bemerkt, erst in letzter Reihe
berücksichtigt werden. Das Gebiet, auf welches man zu allererst Rücksicht zu
nehmen hätte, die Entwicklung der Laute aus dem ursprünglichen Bestande
heraus, bietet abgesehen von einer Erscheinung, der Wandlung des bh von
Casusendungen in m, keine Ausbeute: bei der Vergleichung des litauisch-slavischen
Lautsystems mit dem germanischen kommt man durchweg auf die allgemein indo-
germanische oder wenigstens europäische Grundlage. Es bleiben also Flexion
und Stammbildung, oder um für die letztere einen hier passenderen Ausdruck
zu brauchen, Bildung und Anwendung der Ableitungssuffixe. Sprachen, deren
ganzer Habitus nicht zweifelhaft lässt, dass sie eine längere gemeinsame Ge-
schichte durchlaufen haben, pflegen in der Flexion Erscheinungen darzubieten,
die nur ihnen gehörig auf Verlassen oder Umbilden der indogermanischen Grund-
formen beruhen; man vgl. in dieser Beziehung die Flexion der beiden arischen
Sprachen mit der Flexion der übrigen indogermanischen Sprachen, die des Sla-
vischen und Litauischen mit der einer anderen europäischen Gruppe, die eigen-
thümlichen und gleichartigen Neuerungen in der Conjugation im Italischen und
Keltischen. Neubildungen in der Flexion gelten mit vollem Recht als Haupt-
kriterien engerer Verwandtschaft: da die Mittel eine verlorne oder sich verlierende
alte Form zu ersetzen sehr mannichfaltig sind und keine allgemeinen sprachlichen
Gesetze nothwendig auch auf verschiedenem Boden zur Anwendung dieses oder
jenes bestimmten Mittels führen, ist immer die grösste Wahrscheinlichkeit dafür,

Einleitung.
lichkeit der altbulgarischen Quellen für četyrje (чєтырѥ) = četyrĭje (чєтырьѥ)
stehen kann. Im Slavischen und Litauischen fallen nun die i-Formen in die all-
gemeine Regel dieser Sprachen, die alten consonantischen Formen ausser in No-
minativen, Genitiven und zuweilen Accusativen durch die Formen der i-Stämme
zu ersetzen. Es ist daher ganz zweifelhaft, ob irgend ein historischer Zusammen-
hang mit den germanischen Formen stattfinde.

Von weit grösserem Gewicht sind die weiteren bei Schmidt S. 7 angeführten
Punkte: die Zahlbildung mit got. -lif, -lib, lit. -lika, das gleiche Wort für die
Zahl 1000, die Verwendung des nasalen Suffixes oder Infixes zur Präsensbildung
mit inchoativer oder passivisch-intransitiver Bedeutung, Punkte, die ich hier
nicht weiter auszuführen brauche. Rechnet man dazu noch besondere Eigen-
thümlichkeiten in stammbildenden Suffixen wie das gemeinsame -iska- u. a.,
ferner diejenigen Uebereinstimmungen zwischen Slavisch-litauisch und Ger-
manisch, die beide Familien nach der bisher geltenden Anschauung als zur euro-
päischen Abtheilung gehörig characterisiren, so scheint es mir zum wenigsten
noch eine plausible Vermuthung zu sein, dass dem Slavisch-litauischen und Ger-
manischen eine besondere Entwicklungsgeschichte zuzuschreiben sei. Wir haben
noch, und darauf kommt es mir hier an, das Recht, den Versuch zu machen, ob
das Litauisch-slavische sich mit dem Germanischen zu einer besonderen Gruppe
mit einer vom Ganzen des Sprachstammes oder anderen Theilen desselben ge-
trennten Entwicklung vereinigen lasse. Das Gelingen eines solchen Versuches
bleibt dabei natürlich ganz dahingestellt.

Fragt man sich, von welcher Seite her dieser Versuch am zweckmässigsten
anzustellen sei, so darf der Wortschatz, wie oben bemerkt, erst in letzter Reihe
berücksichtigt werden. Das Gebiet, auf welches man zu allererst Rücksicht zu
nehmen hätte, die Entwicklung der Laute aus dem ursprünglichen Bestande
heraus, bietet abgesehen von einer Erscheinung, der Wandlung des bh von
Casusendungen in m, keine Ausbeute: bei der Vergleichung des litauisch-slavischen
Lautsystems mit dem germanischen kommt man durchweg auf die allgemein indo-
germanische oder wenigstens europäische Grundlage. Es bleiben also Flexion
und Stammbildung, oder um für die letztere einen hier passenderen Ausdruck
zu brauchen, Bildung und Anwendung der Ableitungssuffixe. Sprachen, deren
ganzer Habitus nicht zweifelhaft lässt, dass sie eine längere gemeinsame Ge-
schichte durchlaufen haben, pflegen in der Flexion Erscheinungen darzubieten,
die nur ihnen gehörig auf Verlassen oder Umbilden der indogermanischen Grund-
formen beruhen; man vgl. in dieser Beziehung die Flexion der beiden arischen
Sprachen mit der Flexion der übrigen indogermanischen Sprachen, die des Sla-
vischen und Litauischen mit der einer anderen europäischen Gruppe, die eigen-
thümlichen und gleichartigen Neuerungen in der Conjugation im Italischen und
Keltischen. Neubildungen in der Flexion gelten mit vollem Recht als Haupt-
kriterien engerer Verwandtschaft: da die Mittel eine verlorne oder sich verlierende
alte Form zu ersetzen sehr mannichfaltig sind und keine allgemeinen sprachlichen
Gesetze nothwendig auch auf verschiedenem Boden zur Anwendung dieses oder
jenes bestimmten Mittels führen, ist immer die grösste Wahrscheinlichkeit dafür,

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[XXVII/0033] Einleitung. lichkeit der altbulgarischen Quellen für četyrje (чєтырѥ) = četyrĭje (чєтырьѥ) stehen kann. Im Slavischen und Litauischen fallen nun die i-Formen in die all- gemeine Regel dieser Sprachen, die alten consonantischen Formen ausser in No- minativen, Genitiven und zuweilen Accusativen durch die Formen der i-Stämme zu ersetzen. Es ist daher ganz zweifelhaft, ob irgend ein historischer Zusammen- hang mit den germanischen Formen stattfinde. Von weit grösserem Gewicht sind die weiteren bei Schmidt S. 7 angeführten Punkte: die Zahlbildung mit got. -lif, -lib, lit. -lika, das gleiche Wort für die Zahl 1000, die Verwendung des nasalen Suffixes oder Infixes zur Präsensbildung mit inchoativer oder passivisch-intransitiver Bedeutung, Punkte, die ich hier nicht weiter auszuführen brauche. Rechnet man dazu noch besondere Eigen- thümlichkeiten in stammbildenden Suffixen wie das gemeinsame -iska- u. a., ferner diejenigen Uebereinstimmungen zwischen Slavisch-litauisch und Ger- manisch, die beide Familien nach der bisher geltenden Anschauung als zur euro- päischen Abtheilung gehörig characterisiren, so scheint es mir zum wenigsten noch eine plausible Vermuthung zu sein, dass dem Slavisch-litauischen und Ger- manischen eine besondere Entwicklungsgeschichte zuzuschreiben sei. Wir haben noch, und darauf kommt es mir hier an, das Recht, den Versuch zu machen, ob das Litauisch-slavische sich mit dem Germanischen zu einer besonderen Gruppe mit einer vom Ganzen des Sprachstammes oder anderen Theilen desselben ge- trennten Entwicklung vereinigen lasse. Das Gelingen eines solchen Versuches bleibt dabei natürlich ganz dahingestellt. Fragt man sich, von welcher Seite her dieser Versuch am zweckmässigsten anzustellen sei, so darf der Wortschatz, wie oben bemerkt, erst in letzter Reihe berücksichtigt werden. Das Gebiet, auf welches man zu allererst Rücksicht zu nehmen hätte, die Entwicklung der Laute aus dem ursprünglichen Bestande heraus, bietet abgesehen von einer Erscheinung, der Wandlung des bh von Casusendungen in m, keine Ausbeute: bei der Vergleichung des litauisch-slavischen Lautsystems mit dem germanischen kommt man durchweg auf die allgemein indo- germanische oder wenigstens europäische Grundlage. Es bleiben also Flexion und Stammbildung, oder um für die letztere einen hier passenderen Ausdruck zu brauchen, Bildung und Anwendung der Ableitungssuffixe. Sprachen, deren ganzer Habitus nicht zweifelhaft lässt, dass sie eine längere gemeinsame Ge- schichte durchlaufen haben, pflegen in der Flexion Erscheinungen darzubieten, die nur ihnen gehörig auf Verlassen oder Umbilden der indogermanischen Grund- formen beruhen; man vgl. in dieser Beziehung die Flexion der beiden arischen Sprachen mit der Flexion der übrigen indogermanischen Sprachen, die des Sla- vischen und Litauischen mit der einer anderen europäischen Gruppe, die eigen- thümlichen und gleichartigen Neuerungen in der Conjugation im Italischen und Keltischen. Neubildungen in der Flexion gelten mit vollem Recht als Haupt- kriterien engerer Verwandtschaft: da die Mittel eine verlorne oder sich verlierende alte Form zu ersetzen sehr mannichfaltig sind und keine allgemeinen sprachlichen Gesetze nothwendig auch auf verschiedenem Boden zur Anwendung dieses oder jenes bestimmten Mittels führen, ist immer die grösste Wahrscheinlichkeit dafür,

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Zitationshilfe: Leskien, August: Die Declination im Slavisch-Litauischen und Germanischen. Leipzig, 1876, S. XXVII. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/leskien_declination_1876/33>, abgerufen am 21.11.2024.