Ninus kam bey Voltairen, als ein Wesen, das noch jenseit dem Grabe angenehmer und unange- nehmer Empfindungen fähig ist, mit welchem wir also Mitleiden haben können, in keine Be- trachtung. Er wollte blos damit lehren, daß die höchste Macht, um verborgene Verbrechen ans Licht zu bringen und zu bestrafen, auch wohl eine Ausnahme von ihren ewigen Gesetzen mache.
Ich will nicht sagen, daß es ein Fehler ist, wenn der dramatische Dichter seine Fabel so ein- richtet, daß sie zur Erläuterung oder Bestäti- gung irgend einer großen moralischen Wahrheit dienen kann. Aber ich darf sagen, daß diese Einrichtung der Fabel nichts weniger als noth- wendig ist; daß es sehr lehrreiche vollkommene Stücke geben kann, die auf keine solche einzelne Maxime abzwecken; daß man Unrecht thut, den letzten Sittenspruch, den man zum Schlusse ver- schiedener Trauerspiele der Alten findet, so an- zusehen, als ob das Ganze blos um seinetwillen da wäre.
Wenn daher die Semiramis des Herrn von Voltaire weiter kein Verdienst hätte, als dieses, worauf er sich so viel zu gute thut, daß man nehmlich daraus die höchste Gerechtigkeit vereh- ren lerne, die ausserordentliche Lasterthaten zu strafen, ausserordentliche Wege wähle: so würde Semiramis in meinen Augen nur ein sehr mittel- mäßiges Stück seyn. Besonders da diese Moral
selbst
Ninus kam bey Voltairen, als ein Weſen, das noch jenſeit dem Grabe angenehmer und unange- nehmer Empfindungen faͤhig iſt, mit welchem wir alſo Mitleiden haben koͤnnen, in keine Be- trachtung. Er wollte blos damit lehren, daß die hoͤchſte Macht, um verborgene Verbrechen ans Licht zu bringen und zu beſtrafen, auch wohl eine Ausnahme von ihren ewigen Geſetzen mache.
Ich will nicht ſagen, daß es ein Fehler iſt, wenn der dramatiſche Dichter ſeine Fabel ſo ein- richtet, daß ſie zur Erlaͤuterung oder Beſtaͤti- gung irgend einer großen moraliſchen Wahrheit dienen kann. Aber ich darf ſagen, daß dieſe Einrichtung der Fabel nichts weniger als noth- wendig iſt; daß es ſehr lehrreiche vollkommene Stuͤcke geben kann, die auf keine ſolche einzelne Maxime abzwecken; daß man Unrecht thut, den letzten Sittenſpruch, den man zum Schluſſe ver- ſchiedener Trauerſpiele der Alten findet, ſo an- zuſehen, als ob das Ganze blos um ſeinetwillen da waͤre.
Wenn daher die Semiramis des Herrn von Voltaire weiter kein Verdienſt haͤtte, als dieſes, worauf er ſich ſo viel zu gute thut, daß man nehmlich daraus die hoͤchſte Gerechtigkeit vereh- ren lerne, die auſſerordentliche Laſterthaten zu ſtrafen, auſſerordentliche Wege waͤhle: ſo wuͤrde Semiramis in meinen Augen nur ein ſehr mittel- maͤßiges Stuͤck ſeyn. Beſonders da dieſe Moral
ſelbſt
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Ninus kam bey Voltairen, als ein Weſen, das
noch jenſeit dem Grabe angenehmer und unange-
nehmer Empfindungen faͤhig iſt, mit welchem
wir alſo Mitleiden haben koͤnnen, in keine Be-
trachtung. Er wollte blos damit lehren, daß
die hoͤchſte Macht, um verborgene Verbrechen
ans Licht zu bringen und zu beſtrafen, auch wohl
eine Ausnahme von ihren ewigen Geſetzen mache.
Ich will nicht ſagen, daß es ein Fehler iſt,
wenn der dramatiſche Dichter ſeine Fabel ſo ein-
richtet, daß ſie zur Erlaͤuterung oder Beſtaͤti-
gung irgend einer großen moraliſchen Wahrheit
dienen kann. Aber ich darf ſagen, daß dieſe
Einrichtung der Fabel nichts weniger als noth-
wendig iſt; daß es ſehr lehrreiche vollkommene
Stuͤcke geben kann, die auf keine ſolche einzelne
Maxime abzwecken; daß man Unrecht thut, den
letzten Sittenſpruch, den man zum Schluſſe ver-
ſchiedener Trauerſpiele der Alten findet, ſo an-
zuſehen, als ob das Ganze blos um ſeinetwillen
da waͤre.
Wenn daher die Semiramis des Herrn von
Voltaire weiter kein Verdienſt haͤtte, als dieſes,
worauf er ſich ſo viel zu gute thut, daß man
nehmlich daraus die hoͤchſte Gerechtigkeit vereh-
ren lerne, die auſſerordentliche Laſterthaten zu
ſtrafen, auſſerordentliche Wege waͤhle: ſo wuͤrde
Semiramis in meinen Augen nur ein ſehr mittel-
maͤßiges Stuͤck ſeyn. Beſonders da dieſe Moral
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 90. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/104>, abgerufen am 21.11.2024.
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