Der wahre Geschmack ist der allgemeine, der sich über Schönheiten von jeder Art verbreitet, aber von keiner mehr Vergnügen und Ent- zücken erwartet, als sie nach ihrer Art gewähren kann.
Der Stuffen sind viel, die eine werdende Bühne bis zum Gipfel der Vollkommenheit zu durchsteigen hat; aber eine verderbte Bühne ist von dieser Höhe, natürlicher Weise, noch weiter entfernt: und ich fürchte sehr, daß die deutsche mehr dieses als jenes ist.
Alles kann folglich nicht auf einmal geschehen. Doch was man nicht wachsen sieht, findet man nach einiger Zeit gewachsen. Der Langsamste, der sein Ziel nur nicht aus den Augen verlieret, geht noch immer geschwinder, als der ohne Ziel herum irret.
Diese Dramaturgie soll ein kritisches Register von allen aufzuführenden Stücken halten, und jeden Schritt begleiten, den die Kunst, sowohl des Dichters, als des Schauspielers, hier thun wird. Die Wahl der Stücke ist keine Kleinig- keit: aber Wahl setzt Menge voraus; und wenn
nicht
* 3
Der wahre Geſchmack iſt der allgemeine, der ſich uͤber Schoͤnheiten von jeder Art verbreitet, aber von keiner mehr Vergnuͤgen und Ent- zuͤcken erwartet, als ſie nach ihrer Art gewaͤhren kann.
Der Stuffen ſind viel, die eine werdende Buͤhne bis zum Gipfel der Vollkommenheit zu durchſteigen hat; aber eine verderbte Buͤhne iſt von dieſer Hoͤhe, natuͤrlicher Weiſe, noch weiter entfernt: und ich fuͤrchte ſehr, daß die deutſche mehr dieſes als jenes iſt.
Alles kann folglich nicht auf einmal geſchehen. Doch was man nicht wachſen ſieht, findet man nach einiger Zeit gewachſen. Der Langſamſte, der ſein Ziel nur nicht aus den Augen verlieret, geht noch immer geſchwinder, als der ohne Ziel herum irret.
Dieſe Dramaturgie ſoll ein kritiſches Regiſter von allen aufzufuͤhrenden Stuͤcken halten, und jeden Schritt begleiten, den die Kunſt, ſowohl des Dichters, als des Schauſpielers, hier thun wird. Die Wahl der Stuͤcke iſt keine Kleinig- keit: aber Wahl ſetzt Menge voraus; und wenn
nicht
* 3
<TEI><text><front><divn="1"><p><pbfacs="#f0011"/>
Der wahre Geſchmack iſt der allgemeine, der<lb/>ſich uͤber Schoͤnheiten von jeder Art verbreitet,<lb/>
aber von keiner mehr Vergnuͤgen und Ent-<lb/>
zuͤcken erwartet, als ſie nach ihrer Art gewaͤhren<lb/>
kann.</p><lb/><p>Der Stuffen ſind viel, die eine werdende<lb/>
Buͤhne bis zum Gipfel der Vollkommenheit zu<lb/>
durchſteigen hat; aber eine verderbte Buͤhne iſt<lb/>
von dieſer Hoͤhe, natuͤrlicher Weiſe, noch weiter<lb/>
entfernt: und ich fuͤrchte ſehr, daß die deutſche<lb/>
mehr dieſes als jenes iſt.</p><lb/><p>Alles kann folglich nicht auf einmal geſchehen.<lb/>
Doch was man nicht wachſen ſieht, findet man<lb/>
nach einiger Zeit gewachſen. Der Langſamſte,<lb/>
der ſein Ziel nur nicht aus den Augen verlieret,<lb/>
geht noch immer geſchwinder, als der ohne Ziel<lb/>
herum irret.</p><lb/><p>Dieſe Dramaturgie ſoll ein kritiſches Regiſter<lb/>
von allen aufzufuͤhrenden Stuͤcken halten, und<lb/>
jeden Schritt begleiten, den die Kunſt, ſowohl<lb/>
des Dichters, als des Schauſpielers, hier thun<lb/>
wird. Die Wahl der Stuͤcke iſt keine Kleinig-<lb/>
keit: aber Wahl ſetzt Menge voraus; und wenn<lb/><fwplace="bottom"type="sig">* 3</fw><fwplace="bottom"type="catch">nicht</fw><lb/></p></div></front></text></TEI>
[0011]
Der wahre Geſchmack iſt der allgemeine, der
ſich uͤber Schoͤnheiten von jeder Art verbreitet,
aber von keiner mehr Vergnuͤgen und Ent-
zuͤcken erwartet, als ſie nach ihrer Art gewaͤhren
kann.
Der Stuffen ſind viel, die eine werdende
Buͤhne bis zum Gipfel der Vollkommenheit zu
durchſteigen hat; aber eine verderbte Buͤhne iſt
von dieſer Hoͤhe, natuͤrlicher Weiſe, noch weiter
entfernt: und ich fuͤrchte ſehr, daß die deutſche
mehr dieſes als jenes iſt.
Alles kann folglich nicht auf einmal geſchehen.
Doch was man nicht wachſen ſieht, findet man
nach einiger Zeit gewachſen. Der Langſamſte,
der ſein Ziel nur nicht aus den Augen verlieret,
geht noch immer geſchwinder, als der ohne Ziel
herum irret.
Dieſe Dramaturgie ſoll ein kritiſches Regiſter
von allen aufzufuͤhrenden Stuͤcken halten, und
jeden Schritt begleiten, den die Kunſt, ſowohl
des Dichters, als des Schauſpielers, hier thun
wird. Die Wahl der Stuͤcke iſt keine Kleinig-
keit: aber Wahl ſetzt Menge voraus; und wenn
nicht
* 3
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/11>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.