Diese Zeilen versteht man ganz falsch, wenn man Charlotten eine bäurische Neige, einen dummen Knix machen läßt. Ihre Verbeugung muß wohl gelernt seyn, und wie gesagt, ihrem Tanzmeister keine Schande machen. Frau Praat- gern muß sie nur noch nicht affektirt genug fin- den. Charlotte verbeugt sich, und Frau Praat- gern will, sie soll sich dabey zieren. Das ist der ganze Unterschied, und Madame Löwen be- merkte ihn sehr wohl, ob ich gleich nicht glaube, daß die Praatgern sonst eine Rolle für sie ist. Sie kann die feine Frau zu wenig verbergen, und gewissen Gesichtern wollen nichtswürdige Hand- lungen, dergleichung die Vertauschung einer Tochter ist, durchaus nicht lassen.
Den eilften Abend (Mittewochs, den 6ten May,) ward Miß Sara Sampson aufgeführet.
Man kann von der Kunst nichts mehr verlan- gen, als was Madame Henseln in der Rolle der Sara leistet, und das Stück ward überhaupt sehr gut gespielet. Es ist ein wenig zu lang, und man verkürzt es daher auf den meisten Thea- tern. Ob der Verfasser mit allen diesen Ver- kürzungen so recht zufrieden ist, daran zweifle ich fast. Man weiß ja, wie die Autores sind; wenn man ihnen auch nur einen Niednagel neh- men will, so schreyen sie gleich: Ihr kommt mir ans Leben! Freylich ist der übermäßigen Länge eines Stücks, durch das bloße Weglassen, nur
übel
Dieſe Zeilen verſteht man ganz falſch, wenn man Charlotten eine baͤuriſche Neige, einen dummen Knix machen laͤßt. Ihre Verbeugung muß wohl gelernt ſeyn, und wie geſagt, ihrem Tanzmeiſter keine Schande machen. Frau Praat- gern muß ſie nur noch nicht affektirt genug fin- den. Charlotte verbeugt ſich, und Frau Praat- gern will, ſie ſoll ſich dabey zieren. Das iſt der ganze Unterſchied, und Madame Loͤwen be- merkte ihn ſehr wohl, ob ich gleich nicht glaube, daß die Praatgern ſonſt eine Rolle fuͤr ſie iſt. Sie kann die feine Frau zu wenig verbergen, und gewiſſen Geſichtern wollen nichtswuͤrdige Hand- lungen, dergleichung die Vertauſchung einer Tochter iſt, durchaus nicht laſſen.
Den eilften Abend (Mittewochs, den 6ten May,) ward Miß Sara Sampſon aufgefuͤhret.
Man kann von der Kunſt nichts mehr verlan- gen, als was Madame Henſeln in der Rolle der Sara leiſtet, und das Stuͤck ward uͤberhaupt ſehr gut geſpielet. Es iſt ein wenig zu lang, und man verkuͤrzt es daher auf den meiſten Thea- tern. Ob der Verfaſſer mit allen dieſen Ver- kuͤrzungen ſo recht zufrieden iſt, daran zweifle ich faſt. Man weiß ja, wie die Autores ſind; wenn man ihnen auch nur einen Niednagel neh- men will, ſo ſchreyen ſie gleich: Ihr kommt mir ans Leben! Freylich iſt der uͤbermaͤßigen Laͤnge eines Stuͤcks, durch das bloße Weglaſſen, nur
uͤbel
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Dieſe Zeilen verſteht man ganz falſch, wenn
man Charlotten eine baͤuriſche Neige, einen
dummen Knix machen laͤßt. Ihre Verbeugung
muß wohl gelernt ſeyn, und wie geſagt, ihrem
Tanzmeiſter keine Schande machen. Frau Praat-
gern muß ſie nur noch nicht affektirt genug fin-
den. Charlotte verbeugt ſich, und Frau Praat-
gern will, ſie ſoll ſich dabey zieren. Das iſt der
ganze Unterſchied, und Madame Loͤwen be-
merkte ihn ſehr wohl, ob ich gleich nicht glaube,
daß die Praatgern ſonſt eine Rolle fuͤr ſie iſt. Sie
kann die feine Frau zu wenig verbergen, und
gewiſſen Geſichtern wollen nichtswuͤrdige Hand-
lungen, dergleichung die Vertauſchung einer
Tochter iſt, durchaus nicht laſſen.
Den eilften Abend (Mittewochs, den 6ten
May,) ward Miß Sara Sampſon aufgefuͤhret.
Man kann von der Kunſt nichts mehr verlan-
gen, als was Madame Henſeln in der Rolle der
Sara leiſtet, und das Stuͤck ward uͤberhaupt
ſehr gut geſpielet. Es iſt ein wenig zu lang,
und man verkuͤrzt es daher auf den meiſten Thea-
tern. Ob der Verfaſſer mit allen dieſen Ver-
kuͤrzungen ſo recht zufrieden iſt, daran zweifle
ich faſt. Man weiß ja, wie die Autores ſind;
wenn man ihnen auch nur einen Niednagel neh-
men will, ſo ſchreyen ſie gleich: Ihr kommt mir
ans Leben! Freylich iſt der uͤbermaͤßigen Laͤnge
eines Stuͤcks, durch das bloße Weglaſſen, nur
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 103. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/117>, abgerufen am 21.11.2024.
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