Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769].

Bild:
<< vorherige Seite

verstehet. Der Versuch, den ein Ungenannter
in einem Stücke gemacht hat, welches er das
Gemählde der Dürftigkeit nennet, hat schon
große Schönheiten; und bis die Franzosen daran
Geschmack gewinnen, hätten wir es für unser
Theater adoptiren sollen.

Was der erstgedachte Kunstrichter an der
deutschen Sara aussetzet, ist zum Theil nicht
ohne Grund. Ich glaube aber doch, der Ver-
fasser wird lieber seine Fehler behalten, als sich
der vielleicht unglücklichen Mühe einer gänzli-
chen Umarbeitung unterziehen wollen. Er er-
innert sich, was Voltaire bey einer ähnlichen
Gelegenheit sagte: "Man kann nicht immer
alles ausführen, was uns unsere Freunde ra-
then. Es giebt auch nothwendige Fehler.
Einem Bucklichten, den man von seinem Buckel
heilen wollte, müßte man das Leben nehmen.
Mein Kind ist bucklicht; aber es befindet sich
sonst ganz gut."

Den zwölften Abend (Donnerstags, den 7ten
May,) ward der Spieler, vom Regnard, auf-
geführet.

Dieses Stück ist ohne Zweifel das beste, was
Regnard gemacht hat; aber Riviere du Freny,
der bald darauf gleichfalls einen Spieler auf die
Bühne brachte, nahm ihn wegen der Erfindung
in Anspruch. Er beklagte sich, daß ihm Reg-
nard die Anlage und verschiedene Scenen gestoh-

len

verſtehet. Der Verſuch, den ein Ungenannter
in einem Stuͤcke gemacht hat, welches er das
Gemaͤhlde der Duͤrftigkeit nennet, hat ſchon
große Schoͤnheiten; und bis die Franzoſen daran
Geſchmack gewinnen, haͤtten wir es fuͤr unſer
Theater adoptiren ſollen.

Was der erſtgedachte Kunſtrichter an der
deutſchen Sara ausſetzet, iſt zum Theil nicht
ohne Grund. Ich glaube aber doch, der Ver-
faſſer wird lieber ſeine Fehler behalten, als ſich
der vielleicht ungluͤcklichen Muͤhe einer gaͤnzli-
chen Umarbeitung unterziehen wollen. Er er-
innert ſich, was Voltaire bey einer aͤhnlichen
Gelegenheit ſagte: „Man kann nicht immer
alles ausfuͤhren, was uns unſere Freunde ra-
then. Es giebt auch nothwendige Fehler.
Einem Bucklichten, den man von ſeinem Buckel
heilen wollte, muͤßte man das Leben nehmen.
Mein Kind iſt bucklicht; aber es befindet ſich
ſonſt ganz gut.„

Den zwoͤlften Abend (Donnerſtags, den 7ten
May,) ward der Spieler, vom Regnard, auf-
gefuͤhret.

Dieſes Stuͤck iſt ohne Zweifel das beſte, was
Regnard gemacht hat; aber Riviere du Freny,
der bald darauf gleichfalls einen Spieler auf die
Buͤhne brachte, nahm ihn wegen der Erfindung
in Anſpruch. Er beklagte ſich, daß ihm Reg-
nard die Anlage und verſchiedene Scenen geſtoh-

len
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0122" n="108"/>
ver&#x017F;tehet. Der Ver&#x017F;uch, den ein Ungenannter<lb/>
in einem Stu&#x0364;cke gemacht hat, welches er das<lb/>
Gema&#x0364;hlde der Du&#x0364;rftigkeit nennet, hat &#x017F;chon<lb/>
große Scho&#x0364;nheiten; und bis die Franzo&#x017F;en daran<lb/>
Ge&#x017F;chmack gewinnen, ha&#x0364;tten wir es fu&#x0364;r un&#x017F;er<lb/>
Theater adoptiren &#x017F;ollen.</p><lb/>
        <p>Was der er&#x017F;tgedachte Kun&#x017F;trichter an der<lb/>
deut&#x017F;chen Sara aus&#x017F;etzet, i&#x017F;t zum Theil nicht<lb/>
ohne Grund. Ich glaube aber doch, der Ver-<lb/>
fa&#x017F;&#x017F;er wird lieber &#x017F;eine Fehler behalten, als &#x017F;ich<lb/>
der vielleicht unglu&#x0364;cklichen Mu&#x0364;he einer ga&#x0364;nzli-<lb/>
chen Umarbeitung unterziehen wollen. Er er-<lb/>
innert &#x017F;ich, was Voltaire bey einer a&#x0364;hnlichen<lb/>
Gelegenheit &#x017F;agte: <cit><quote>&#x201E;Man kann nicht immer<lb/>
alles ausfu&#x0364;hren, was uns un&#x017F;ere Freunde ra-<lb/>
then. Es giebt auch nothwendige Fehler.<lb/>
Einem Bucklichten, den man von &#x017F;einem Buckel<lb/>
heilen wollte, mu&#x0364;ßte man das Leben nehmen.<lb/>
Mein Kind i&#x017F;t bucklicht; aber es befindet &#x017F;ich<lb/>
&#x017F;on&#x017F;t ganz gut.&#x201E;</quote></cit></p><lb/>
        <p>Den zwo&#x0364;lften Abend (Donner&#x017F;tags, den 7ten<lb/>
May,) ward der Spieler, vom Regnard, auf-<lb/>
gefu&#x0364;hret.</p><lb/>
        <p>Die&#x017F;es Stu&#x0364;ck i&#x017F;t ohne Zweifel das be&#x017F;te, was<lb/>
Regnard gemacht hat; aber Riviere du Freny,<lb/>
der bald darauf gleichfalls einen Spieler auf die<lb/>
Bu&#x0364;hne brachte, nahm ihn wegen der Erfindung<lb/>
in An&#x017F;pruch. Er beklagte &#x017F;ich, daß ihm Reg-<lb/>
nard die Anlage und ver&#x017F;chiedene Scenen ge&#x017F;toh-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">len</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[108/0122] verſtehet. Der Verſuch, den ein Ungenannter in einem Stuͤcke gemacht hat, welches er das Gemaͤhlde der Duͤrftigkeit nennet, hat ſchon große Schoͤnheiten; und bis die Franzoſen daran Geſchmack gewinnen, haͤtten wir es fuͤr unſer Theater adoptiren ſollen. Was der erſtgedachte Kunſtrichter an der deutſchen Sara ausſetzet, iſt zum Theil nicht ohne Grund. Ich glaube aber doch, der Ver- faſſer wird lieber ſeine Fehler behalten, als ſich der vielleicht ungluͤcklichen Muͤhe einer gaͤnzli- chen Umarbeitung unterziehen wollen. Er er- innert ſich, was Voltaire bey einer aͤhnlichen Gelegenheit ſagte: „Man kann nicht immer alles ausfuͤhren, was uns unſere Freunde ra- then. Es giebt auch nothwendige Fehler. Einem Bucklichten, den man von ſeinem Buckel heilen wollte, muͤßte man das Leben nehmen. Mein Kind iſt bucklicht; aber es befindet ſich ſonſt ganz gut.„ Den zwoͤlften Abend (Donnerſtags, den 7ten May,) ward der Spieler, vom Regnard, auf- gefuͤhret. Dieſes Stuͤck iſt ohne Zweifel das beſte, was Regnard gemacht hat; aber Riviere du Freny, der bald darauf gleichfalls einen Spieler auf die Buͤhne brachte, nahm ihn wegen der Erfindung in Anſpruch. Er beklagte ſich, daß ihm Reg- nard die Anlage und verſchiedene Scenen geſtoh- len

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/122
Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 108. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/122>, abgerufen am 21.11.2024.