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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769].

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sehr anständig ausdrücken: aber was ist dieser
Ausdruck gegen jenes lebendige Gemählde aller
der kleinsten geheimsten Ränke, durch die sich
die Liebe in unsere Seele einschleicht, aller der
unmerklichen Vortheile, die sie darinn gewinnet,
aller der Kunstgriffe, mit der sie jede andere Lei-
denschaft unter sich bringt, bis sie der einzige
Tyrann aller unserer Begierden und Verab-
scheuungen wird? Voltaire verstehet, wenn ich
so sagen darf, den Kanzeleystyl der Liebe vor-
trefflich; das ist, diejenige Sprache, denjenigen
Ton der Sprache, den die Liebe braucht, wenn
sie sich auf das behutsamste und gemässenste aus-
drücken will, wenn sie nichts sagen will, als
was sie bey der spröden Sophistinn und bey dem
kalten Kunstrichter verantworten kann. Aber
der beste Kanzeliste weiß von den Geheimnissen
der Regierung nicht immer das meiste; oder hat
gleichwohl Voltaire in das Wesen der Liebe eben
die tiefe Einsicht, die Shakespear gehabt, so
hat er sie wenigstens hier nicht zeigen wollen,
und das Gedicht ist weit unter dem Dichter ge-
blieben.

Von der Eifersucht läßt sich ohngefehr eben
das sagen. Der eifersüchtige Orosmann spielt,
gegen den eifersüchtigen Othello des Shakespear,
eine sehr kahle Figur. Und doch ist Othello of-
fenbar das Vorbild des Orosmann gewesen.

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ſehr anſtaͤndig ausdruͤcken: aber was iſt dieſer
Ausdruck gegen jenes lebendige Gemaͤhlde aller
der kleinſten geheimſten Raͤnke, durch die ſich
die Liebe in unſere Seele einſchleicht, aller der
unmerklichen Vortheile, die ſie darinn gewinnet,
aller der Kunſtgriffe, mit der ſie jede andere Lei-
denſchaft unter ſich bringt, bis ſie der einzige
Tyrann aller unſerer Begierden und Verab-
ſcheuungen wird? Voltaire verſtehet, wenn ich
ſo ſagen darf, den Kanzeleyſtyl der Liebe vor-
trefflich; das iſt, diejenige Sprache, denjenigen
Ton der Sprache, den die Liebe braucht, wenn
ſie ſich auf das behutſamſte und gemaͤſſenſte aus-
druͤcken will, wenn ſie nichts ſagen will, als
was ſie bey der ſproͤden Sophiſtinn und bey dem
kalten Kunſtrichter verantworten kann. Aber
der beſte Kanzeliſte weiß von den Geheimniſſen
der Regierung nicht immer das meiſte; oder hat
gleichwohl Voltaire in das Weſen der Liebe eben
die tiefe Einſicht, die Shakeſpear gehabt, ſo
hat er ſie wenigſtens hier nicht zeigen wollen,
und das Gedicht iſt weit unter dem Dichter ge-
blieben.

Von der Eiferſucht laͤßt ſich ohngefehr eben
das ſagen. Der eiferſuͤchtige Orosmann ſpielt,
gegen den eiferſuͤchtigen Othello des Shakeſpear,
eine ſehr kahle Figur. Und doch iſt Othello of-
fenbar das Vorbild des Orosmann geweſen.

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[115/0129] ſehr anſtaͤndig ausdruͤcken: aber was iſt dieſer Ausdruck gegen jenes lebendige Gemaͤhlde aller der kleinſten geheimſten Raͤnke, durch die ſich die Liebe in unſere Seele einſchleicht, aller der unmerklichen Vortheile, die ſie darinn gewinnet, aller der Kunſtgriffe, mit der ſie jede andere Lei- denſchaft unter ſich bringt, bis ſie der einzige Tyrann aller unſerer Begierden und Verab- ſcheuungen wird? Voltaire verſtehet, wenn ich ſo ſagen darf, den Kanzeleyſtyl der Liebe vor- trefflich; das iſt, diejenige Sprache, denjenigen Ton der Sprache, den die Liebe braucht, wenn ſie ſich auf das behutſamſte und gemaͤſſenſte aus- druͤcken will, wenn ſie nichts ſagen will, als was ſie bey der ſproͤden Sophiſtinn und bey dem kalten Kunſtrichter verantworten kann. Aber der beſte Kanzeliſte weiß von den Geheimniſſen der Regierung nicht immer das meiſte; oder hat gleichwohl Voltaire in das Weſen der Liebe eben die tiefe Einſicht, die Shakeſpear gehabt, ſo hat er ſie wenigſtens hier nicht zeigen wollen, und das Gedicht iſt weit unter dem Dichter ge- blieben. Von der Eiferſucht laͤßt ſich ohngefehr eben das ſagen. Der eiferſuͤchtige Orosmann ſpielt, gegen den eiferſuͤchtigen Othello des Shakeſpear, eine ſehr kahle Figur. Und doch iſt Othello of- fenbar das Vorbild des Orosmann geweſen. Cib- P 2

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Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 115. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/129>, abgerufen am 21.11.2024.