nes entdecken? Was zwingt den Antenor, ihm seine Verbrechen zu offenbaren? Fällt Ilus nicht gleichsam vom Himmel? Ist die Gemüthsände- rung des Rhamnes nicht viel zu schleunig? Bis auf den Augenblick, da er den Antenor ersticht, nimmt er an den Verbrechen seines Herrn auf die entschloßenste Weise Theil; und wenn er ein- mal Reue zu empfinden geschienen, so hatte er sie doch sogleich wieder unterdrückt. Welche geringfügige Ursachen giebt hiernächst der Dich- ter nicht manchmal den wichtigsten Dingen! So muß Polidor, wenn er aus der Schlacht kömmt, und sich wiederum in dem Grabmahle verbergen will, der Zelmire den Rücken zukehren, und der Dichter muß uns sorgfältig diesen kleinen Umstand einschärfen. Denn wenn Polidor an- ders ginge, wenn er der Prinzeßin das Gesicht, anstatt den Rücken zuwendete: so würde sie ihn erkennen, und die folgende Scene, wo diese zärtliche Tochter unwissend ihren Vater seinen Henkern überliefert, diese so verstechende, auf alle Zuschauer so großen Eindruck machende Scene, fiele weg. Wäre es gleichwohl nicht weit natürlicher gewesen, wenn Polidor, indem er wieder in das Grabmahl flüchtet, die Zelmire bemerkt, ihr ein Wort zugeruffen, oder auch nur ein Wink gegeben hätte? Freylich wäre es so natürlicher gewesen, als daß die ganzen letzten Akte sich nunmehr auf die Art, wie Polidor
geht,
nes entdecken? Was zwingt den Antenor, ihm ſeine Verbrechen zu offenbaren? Faͤllt Ilus nicht gleichſam vom Himmel? Iſt die Gemuͤthsaͤnde- rung des Rhamnes nicht viel zu ſchleunig? Bis auf den Augenblick, da er den Antenor erſticht, nimmt er an den Verbrechen ſeines Herrn auf die entſchloßenſte Weiſe Theil; und wenn er ein- mal Reue zu empfinden geſchienen, ſo hatte er ſie doch ſogleich wieder unterdruͤckt. Welche geringfuͤgige Urſachen giebt hiernaͤchſt der Dich- ter nicht manchmal den wichtigſten Dingen! So muß Polidor, wenn er aus der Schlacht koͤmmt, und ſich wiederum in dem Grabmahle verbergen will, der Zelmire den Ruͤcken zukehren, und der Dichter muß uns ſorgfaͤltig dieſen kleinen Umſtand einſchaͤrfen. Denn wenn Polidor an- ders ginge, wenn er der Prinzeßin das Geſicht, anſtatt den Ruͤcken zuwendete: ſo wuͤrde ſie ihn erkennen, und die folgende Scene, wo dieſe zaͤrtliche Tochter unwiſſend ihren Vater ſeinen Henkern uͤberliefert, dieſe ſo verſtechende, auf alle Zuſchauer ſo großen Eindruck machende Scene, fiele weg. Waͤre es gleichwohl nicht weit natuͤrlicher geweſen, wenn Polidor, indem er wieder in das Grabmahl fluͤchtet, die Zelmire bemerkt, ihr ein Wort zugeruffen, oder auch nur ein Wink gegeben haͤtte? Freylich waͤre es ſo natuͤrlicher geweſen, als daß die ganzen letzten Akte ſich nunmehr auf die Art, wie Polidor
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nes entdecken? Was zwingt den Antenor, ihm
ſeine Verbrechen zu offenbaren? Faͤllt Ilus nicht
gleichſam vom Himmel? Iſt die Gemuͤthsaͤnde-
rung des Rhamnes nicht viel zu ſchleunig? Bis
auf den Augenblick, da er den Antenor erſticht,
nimmt er an den Verbrechen ſeines Herrn auf
die entſchloßenſte Weiſe Theil; und wenn er ein-
mal Reue zu empfinden geſchienen, ſo hatte er
ſie doch ſogleich wieder unterdruͤckt. Welche
geringfuͤgige Urſachen giebt hiernaͤchſt der Dich-
ter nicht manchmal den wichtigſten Dingen! So
muß Polidor, wenn er aus der Schlacht koͤmmt,
und ſich wiederum in dem Grabmahle verbergen
will, der Zelmire den Ruͤcken zukehren, und
der Dichter muß uns ſorgfaͤltig dieſen kleinen
Umſtand einſchaͤrfen. Denn wenn Polidor an-
ders ginge, wenn er der Prinzeßin das Geſicht,
anſtatt den Ruͤcken zuwendete: ſo wuͤrde ſie ihn
erkennen, und die folgende Scene, wo dieſe
zaͤrtliche Tochter unwiſſend ihren Vater ſeinen
Henkern uͤberliefert, dieſe ſo verſtechende, auf
alle Zuſchauer ſo großen Eindruck machende
Scene, fiele weg. Waͤre es gleichwohl nicht
weit natuͤrlicher geweſen, wenn Polidor, indem
er wieder in das Grabmahl fluͤchtet, die Zelmire
bemerkt, ihr ein Wort zugeruffen, oder auch nur
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 148. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/162>, abgerufen am 21.11.2024.
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