chen Varietäten des menschlichen Gemüths nicht auch unendliche Benennungen hat.
Wenn der Titel Nanine nichts sagt; so sagt der andere Titel desto mehr: Nanine, oder das besiegte Vorurtheil. Und warum soll ein Stück nicht zwey Titel haben? Haben wir Menschen doch auch zwey, drey Namen. Die Namen sind der Unterscheidung wegen; und mit zwey Namen ist die Verwechselung schwerer, als mit einem. Wegen des zweyten Titels scheinet der Herr von Voltaire noch nicht recht einig mit sich gewesen zu seyn. In der nehmlichen Ausgabe seiner Werke heißt er auf einem Blatte, das be- siegte Vorurtheil; und auf dem andern, der Mann ohne Vorurtheil. Doch beides ist nicht weit aus einander. Es ist von dem Vorurtheile, daß zu einer vernünftigen Ehe die Gleichheit der Geburt und des Standes erforderlich sey, die Rede. Kurz, die Geschichte der Nanine ist die Geschichte der Pamela. Ohne Zweifel wollte der Herr von Voltaire den Namen Pamela nicht brauchen, weil schon einige Jahre vorher ein Paar Stücke unter diesem Namen erschienen waren, und eben kein großes Glück gemacht hatten. Die Pamela des Boissy und des De la Chaussee sind auch ziemlich kahle Stücke; und Voltaire brauchte eben nicht Voltaire zu seyn, etwas weit Besseres zu machen.
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chen Varietaͤten des menſchlichen Gemuͤths nicht auch unendliche Benennungen hat.
Wenn der Titel Nanine nichts ſagt; ſo ſagt der andere Titel deſto mehr: Nanine, oder das beſiegte Vorurtheil. Und warum ſoll ein Stuͤck nicht zwey Titel haben? Haben wir Menſchen doch auch zwey, drey Namen. Die Namen ſind der Unterſcheidung wegen; und mit zwey Namen iſt die Verwechſelung ſchwerer, als mit einem. Wegen des zweyten Titels ſcheinet der Herr von Voltaire noch nicht recht einig mit ſich geweſen zu ſeyn. In der nehmlichen Ausgabe ſeiner Werke heißt er auf einem Blatte, das be- ſiegte Vorurtheil; und auf dem andern, der Mann ohne Vorurtheil. Doch beides iſt nicht weit aus einander. Es iſt von dem Vorurtheile, daß zu einer vernuͤnftigen Ehe die Gleichheit der Geburt und des Standes erforderlich ſey, die Rede. Kurz, die Geſchichte der Nanine iſt die Geſchichte der Pamela. Ohne Zweifel wollte der Herr von Voltaire den Namen Pamela nicht brauchen, weil ſchon einige Jahre vorher ein Paar Stuͤcke unter dieſem Namen erſchienen waren, und eben kein großes Gluͤck gemacht hatten. Die Pamela des Boiſſy und des De la Chauſſee ſind auch ziemlich kahle Stuͤcke; und Voltaire brauchte eben nicht Voltaire zu ſeyn, etwas weit Beſſeres zu machen.
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chen Varietaͤten des menſchlichen Gemuͤths nicht
auch unendliche Benennungen hat.
Wenn der Titel Nanine nichts ſagt; ſo ſagt
der andere Titel deſto mehr: Nanine, oder das
beſiegte Vorurtheil. Und warum ſoll ein Stuͤck
nicht zwey Titel haben? Haben wir Menſchen
doch auch zwey, drey Namen. Die Namen
ſind der Unterſcheidung wegen; und mit zwey
Namen iſt die Verwechſelung ſchwerer, als mit
einem. Wegen des zweyten Titels ſcheinet der
Herr von Voltaire noch nicht recht einig mit ſich
geweſen zu ſeyn. In der nehmlichen Ausgabe
ſeiner Werke heißt er auf einem Blatte, das be-
ſiegte Vorurtheil; und auf dem andern, der
Mann ohne Vorurtheil. Doch beides iſt nicht
weit aus einander. Es iſt von dem Vorurtheile,
daß zu einer vernuͤnftigen Ehe die Gleichheit der
Geburt und des Standes erforderlich ſey, die
Rede. Kurz, die Geſchichte der Nanine iſt die
Geſchichte der Pamela. Ohne Zweifel wollte
der Herr von Voltaire den Namen Pamela nicht
brauchen, weil ſchon einige Jahre vorher ein
Paar Stuͤcke unter dieſem Namen erſchienen
waren, und eben kein großes Gluͤck gemacht
hatten. Die Pamela des Boiſſy und des De la
Chauſſee ſind auch ziemlich kahle Stuͤcke; und
Voltaire brauchte eben nicht Voltaire zu ſeyn,
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 165. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/179>, abgerufen am 24.11.2024.
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