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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769].

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Nanine gehört unter die rührenden Lustspiele.
Es hat aber auch sehr viel lächerliche Scenen,
und nur in so fern, als die lächerlichen Scenen
mit den rührenden abwechseln, will Voltaire
diese in der Komödie geduldet wissen. Eine
ganz ernsthafte Komödie, wo man niemals lacht,
auch nicht einmal lächelt, wo man nur immer
weinen möchte, ist ihm ein Ungeheuer. Hin-
gegen findet er den Uebergang von dem Rühren-
den zum Lächerlichen, und von dem Lächerlichen
zum Rührenden, sehr natürlich. Das mensch-
liche Leben ist nichts als eine beständige Kette
solcher Uebergänge, und die Komödie soll ein
Spiegel des menschlichen Lebens seyn.

"Was
ist gewöhnlicher,

sagt er,

als daß in dem nehm-
lichen Hause der zornige Vater poltert, die ver-
liebte Tochter seufzet, der Sohn sich über beide
aufhält, und jeder Anverwandte bey der nehm-
lichen Scene etwas anders empfindet? Man
verspottet in einer Stube sehr oft, was in der
Stube neben an äußerst bewegt; und nicht sel-
ten hat eben dieselbe Person in eben derselben
Viertelstunde über eben dieselbe Sache gelacht
und geweinet. Eine sehr ehrwürdige Matrone
saß bey einer von ihren Töchtern, die gefähr-
lich krank lag, am Bette, und die ganze Fa-
milie stand um ihr herum. Sie wollte in Thrä-
nen zerfließen, sie rang die Hände, und rief:
O Gott! laß mir, laß mir dieses Kind, nur die-
ses;

Nanine gehoͤrt unter die ruͤhrenden Luſtſpiele.
Es hat aber auch ſehr viel laͤcherliche Scenen,
und nur in ſo fern, als die laͤcherlichen Scenen
mit den ruͤhrenden abwechſeln, will Voltaire
dieſe in der Komoͤdie geduldet wiſſen. Eine
ganz ernſthafte Komoͤdie, wo man niemals lacht,
auch nicht einmal laͤchelt, wo man nur immer
weinen moͤchte, iſt ihm ein Ungeheuer. Hin-
gegen findet er den Uebergang von dem Ruͤhren-
den zum Laͤcherlichen, und von dem Laͤcherlichen
zum Ruͤhrenden, ſehr natuͤrlich. Das menſch-
liche Leben iſt nichts als eine beſtaͤndige Kette
ſolcher Uebergaͤnge, und die Komoͤdie ſoll ein
Spiegel des menſchlichen Lebens ſeyn.

„Was
iſt gewoͤhnlicher,

ſagt er,

als daß in dem nehm-
lichen Hauſe der zornige Vater poltert, die ver-
liebte Tochter ſeufzet, der Sohn ſich uͤber beide
aufhaͤlt, und jeder Anverwandte bey der nehm-
lichen Scene etwas anders empfindet? Man
verſpottet in einer Stube ſehr oft, was in der
Stube neben an aͤußerſt bewegt; und nicht ſel-
ten hat eben dieſelbe Perſon in eben derſelben
Viertelſtunde uͤber eben dieſelbe Sache gelacht
und geweinet. Eine ſehr ehrwuͤrdige Matrone
ſaß bey einer von ihren Toͤchtern, die gefaͤhr-
lich krank lag, am Bette, und die ganze Fa-
milie ſtand um ihr herum. Sie wollte in Thraͤ-
nen zerfließen, ſie rang die Haͤnde, und rief:
O Gott! laß mir, laß mir dieſes Kind, nur die-
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[166/0180] Nanine gehoͤrt unter die ruͤhrenden Luſtſpiele. Es hat aber auch ſehr viel laͤcherliche Scenen, und nur in ſo fern, als die laͤcherlichen Scenen mit den ruͤhrenden abwechſeln, will Voltaire dieſe in der Komoͤdie geduldet wiſſen. Eine ganz ernſthafte Komoͤdie, wo man niemals lacht, auch nicht einmal laͤchelt, wo man nur immer weinen moͤchte, iſt ihm ein Ungeheuer. Hin- gegen findet er den Uebergang von dem Ruͤhren- den zum Laͤcherlichen, und von dem Laͤcherlichen zum Ruͤhrenden, ſehr natuͤrlich. Das menſch- liche Leben iſt nichts als eine beſtaͤndige Kette ſolcher Uebergaͤnge, und die Komoͤdie ſoll ein Spiegel des menſchlichen Lebens ſeyn. „Was iſt gewoͤhnlicher, ſagt er, als daß in dem nehm- lichen Hauſe der zornige Vater poltert, die ver- liebte Tochter ſeufzet, der Sohn ſich uͤber beide aufhaͤlt, und jeder Anverwandte bey der nehm- lichen Scene etwas anders empfindet? Man verſpottet in einer Stube ſehr oft, was in der Stube neben an aͤußerſt bewegt; und nicht ſel- ten hat eben dieſelbe Perſon in eben derſelben Viertelſtunde uͤber eben dieſelbe Sache gelacht und geweinet. Eine ſehr ehrwuͤrdige Matrone ſaß bey einer von ihren Toͤchtern, die gefaͤhr- lich krank lag, am Bette, und die ganze Fa- milie ſtand um ihr herum. Sie wollte in Thraͤ- nen zerfließen, ſie rang die Haͤnde, und rief: O Gott! laß mir, laß mir dieſes Kind, nur die- ſes;

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Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 166. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/180>, abgerufen am 21.11.2024.