Thomas Corneille hat ihm von der englischen Geschichte nur wenig gewußt; und zum Glücke für den Dichter, war das damalige Publikum noch unwissender. Itzt, sagt er, kennen wir die Königinn Elisabeth und den Grafen Essex besser; itzt würden einem Dichter dergleichen grobe Verstoßungen wider die historische Wahr- heit schärfer aufgemutzet werden.
Und welches sind denn diese Verstoßungen? Voltaire hat ausgerechnet, daß die Königinn damals, als sie dem Grafen den Proceß machen ließ, acht und sechzig Jahr alt war. Es wäre also lächerlich, sagt er, wenn man sich einbilden wollte, daß die Liebe den geringsten Antheil an dieser Begebenheit könne gehabt haben. War- um das? Geschieht nichts Lächerliches in der Welt? Sich etwas Lächerliches als geschehen denken, ist das so lächerlich? "Nachdem das Urtheil über den Essex abgegeben war, sagt Hume, fand sich die Königinn in der äußersten Unruhe und in der grausamsten Ungewißheit. Rache und Zuneigung, Stolz und Mitleiden, Sorge für ihre eigene Sicherheit und Beküm- merniß um das Leben ihres Lieblings, stritten unauf hörlich in ihr: und vielleicht, daß sie in diesem quälenden Zustande mehr zu beklagen war, als Essex selbst. Sie unterzeichnete und wiederrufte den Befehl zu seiner Hinrichtung
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Thomas Corneille hat ihm von der engliſchen Geſchichte nur wenig gewußt; und zum Gluͤcke fuͤr den Dichter, war das damalige Publikum noch unwiſſender. Itzt, ſagt er, kennen wir die Koͤniginn Eliſabeth und den Grafen Eſſex beſſer; itzt wuͤrden einem Dichter dergleichen grobe Verſtoßungen wider die hiſtoriſche Wahr- heit ſchaͤrfer aufgemutzet werden.
Und welches ſind denn dieſe Verſtoßungen? Voltaire hat ausgerechnet, daß die Koͤniginn damals, als ſie dem Grafen den Proceß machen ließ, acht und ſechzig Jahr alt war. Es waͤre alſo laͤcherlich, ſagt er, wenn man ſich einbilden wollte, daß die Liebe den geringſten Antheil an dieſer Begebenheit koͤnne gehabt haben. War- um das? Geſchieht nichts Laͤcherliches in der Welt? Sich etwas Laͤcherliches als geſchehen denken, iſt das ſo laͤcherlich? 〟Nachdem das Urtheil uͤber den Eſſex abgegeben war, ſagt Hume, fand ſich die Koͤniginn in der aͤußerſten Unruhe und in der grauſamſten Ungewißheit. Rache und Zuneigung, Stolz und Mitleiden, Sorge fuͤr ihre eigene Sicherheit und Bekuͤm- merniß um das Leben ihres Lieblings, ſtritten unauf hoͤrlich in ihr: und vielleicht, daß ſie in dieſem quaͤlenden Zuſtande mehr zu beklagen war, als Eſſex ſelbſt. Sie unterzeichnete und wiederrufte den Befehl zu ſeiner Hinrichtung
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Thomas Corneille hat ihm von der engliſchen
Geſchichte nur wenig gewußt; und zum Gluͤcke
fuͤr den Dichter, war das damalige Publikum
noch unwiſſender. Itzt, ſagt er, kennen wir
die Koͤniginn Eliſabeth und den Grafen Eſſex
beſſer; itzt wuͤrden einem Dichter dergleichen
grobe Verſtoßungen wider die hiſtoriſche Wahr-
heit ſchaͤrfer aufgemutzet werden.
Und welches ſind denn dieſe Verſtoßungen?
Voltaire hat ausgerechnet, daß die Koͤniginn
damals, als ſie dem Grafen den Proceß machen
ließ, acht und ſechzig Jahr alt war. Es waͤre
alſo laͤcherlich, ſagt er, wenn man ſich einbilden
wollte, daß die Liebe den geringſten Antheil an
dieſer Begebenheit koͤnne gehabt haben. War-
um das? Geſchieht nichts Laͤcherliches in der
Welt? Sich etwas Laͤcherliches als geſchehen
denken, iſt das ſo laͤcherlich? 〟Nachdem das
Urtheil uͤber den Eſſex abgegeben war, ſagt
Hume, fand ſich die Koͤniginn in der aͤußerſten
Unruhe und in der grauſamſten Ungewißheit.
Rache und Zuneigung, Stolz und Mitleiden,
Sorge fuͤr ihre eigene Sicherheit und Bekuͤm-
merniß um das Leben ihres Lieblings, ſtritten
unauf hoͤrlich in ihr: und vielleicht, daß ſie in
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 178. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/192>, abgerufen am 21.11.2024.
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