Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769].

Bild:
<< vorherige Seite

Die zweyte Anmerkung betrift das christliche
Trauerspiel insbesondere. Die Helden desselben
sind mehrentheils Märtyrer. Nun leben wir
zu einer Zeit, in welcher die Stimme der gesun-
den Vernunft zu laut erschallet, als daß jeder
Rasender, der sich muthwillig, ohne alle Noth,
mit Verachtung aller seiner bürgerlichen Oblie-
genheiten, in den Tod stürzet, den Titel eines
Märtyrers sich anmaßen dürfte. Wir wissen
itzt zu wohl, die falschen Märtyrer von den wah-
ren zu unterscheiden; wir verachten jene eben so
sehr, als wir diese verehren, und höchstens kön-
nen sie uns eine melancholische Thräne über die
Blindheit und den Unsinn auspressen, deren wir
die Menschheit überhaupt in ihnen fähig er-
blicken. Doch diese Thräne ist keine von den
angenehmen, die das Trauerspiel erregen will.
Wenn daher der Dichter einen Märtyrer zu sei-
nem Helden wählet: daß er ihm ja die lautersten
und triftigsten Bewegungsgründe gebe! daß er
ihn ja in die unumgängliche Nothwendigkeit
setze, den Schritt zu thun, durch den er sich der
Gefahr blos stellet! daß er ihn ja den Tod nicht
freventlich suchen, nicht höhnisch ertrotzen lasse!
Sonst wird uns sein frommer Held zum Abscheu,
und die Religion selbst, die er ehren wollte, kann
darunter leiden. Ich habe schon berühret, daß
es nur ein eben so nichtswürdiger Aberglaube seyn
konnte, als wir in dem Zauberer Ismen verach-

ten,

Die zweyte Anmerkung betrift das chriſtliche
Trauerſpiel insbeſondere. Die Helden deſſelben
ſind mehrentheils Maͤrtyrer. Nun leben wir
zu einer Zeit, in welcher die Stimme der geſun-
den Vernunft zu laut erſchallet, als daß jeder
Raſender, der ſich muthwillig, ohne alle Noth,
mit Verachtung aller ſeiner buͤrgerlichen Oblie-
genheiten, in den Tod ſtuͤrzet, den Titel eines
Maͤrtyrers ſich anmaßen duͤrfte. Wir wiſſen
itzt zu wohl, die falſchen Maͤrtyrer von den wah-
ren zu unterſcheiden; wir verachten jene eben ſo
ſehr, als wir dieſe verehren, und hoͤchſtens koͤn-
nen ſie uns eine melancholiſche Thraͤne uͤber die
Blindheit und den Unſinn auspreſſen, deren wir
die Menſchheit uͤberhaupt in ihnen faͤhig er-
blicken. Doch dieſe Thraͤne iſt keine von den
angenehmen, die das Trauerſpiel erregen will.
Wenn daher der Dichter einen Maͤrtyrer zu ſei-
nem Helden waͤhlet: daß er ihm ja die lauterſten
und triftigſten Bewegungsgruͤnde gebe! daß er
ihn ja in die unumgaͤngliche Nothwendigkeit
ſetze, den Schritt zu thun, durch den er ſich der
Gefahr blos ſtellet! daß er ihn ja den Tod nicht
freventlich ſuchen, nicht hoͤhniſch ertrotzen laſſe!
Sonſt wird uns ſein frommer Held zum Abſcheu,
und die Religion ſelbſt, die er ehren wollte, kann
darunter leiden. Ich habe ſchon beruͤhret, daß
es nur ein eben ſo nichtswuͤrdiger Aberglaube ſeyn
konnte, als wir in dem Zauberer Ismen verach-

ten,
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0021" n="7"/>
        <p>Die zweyte Anmerkung betrift das chri&#x017F;tliche<lb/>
Trauer&#x017F;piel insbe&#x017F;ondere. Die Helden de&#x017F;&#x017F;elben<lb/>
&#x017F;ind mehrentheils Ma&#x0364;rtyrer. Nun leben wir<lb/>
zu einer Zeit, in welcher die Stimme der ge&#x017F;un-<lb/>
den Vernunft zu laut er&#x017F;challet, als daß jeder<lb/>
Ra&#x017F;ender, der &#x017F;ich muthwillig, ohne alle Noth,<lb/>
mit Verachtung aller &#x017F;einer bu&#x0364;rgerlichen Oblie-<lb/>
genheiten, in den Tod &#x017F;tu&#x0364;rzet, den Titel eines<lb/>
Ma&#x0364;rtyrers &#x017F;ich anmaßen du&#x0364;rfte. Wir wi&#x017F;&#x017F;en<lb/>
itzt zu wohl, die fal&#x017F;chen Ma&#x0364;rtyrer von den wah-<lb/>
ren zu unter&#x017F;cheiden; wir verachten jene eben &#x017F;o<lb/>
&#x017F;ehr, als wir die&#x017F;e verehren, und ho&#x0364;ch&#x017F;tens ko&#x0364;n-<lb/>
nen &#x017F;ie uns eine melancholi&#x017F;che Thra&#x0364;ne u&#x0364;ber die<lb/>
Blindheit und den Un&#x017F;inn auspre&#x017F;&#x017F;en, deren wir<lb/>
die Men&#x017F;chheit u&#x0364;berhaupt in ihnen fa&#x0364;hig er-<lb/>
blicken. Doch die&#x017F;e Thra&#x0364;ne i&#x017F;t keine von den<lb/>
angenehmen, die das Trauer&#x017F;piel erregen will.<lb/>
Wenn daher der Dichter einen Ma&#x0364;rtyrer zu &#x017F;ei-<lb/>
nem Helden wa&#x0364;hlet: daß er ihm ja die lauter&#x017F;ten<lb/>
und triftig&#x017F;ten Bewegungsgru&#x0364;nde gebe! daß er<lb/>
ihn ja in die unumga&#x0364;ngliche Nothwendigkeit<lb/>
&#x017F;etze, den Schritt zu thun, durch den er &#x017F;ich der<lb/>
Gefahr blos &#x017F;tellet! daß er ihn ja den Tod nicht<lb/>
freventlich &#x017F;uchen, nicht ho&#x0364;hni&#x017F;ch ertrotzen la&#x017F;&#x017F;e!<lb/>
Son&#x017F;t wird uns &#x017F;ein frommer Held zum Ab&#x017F;cheu,<lb/>
und die Religion &#x017F;elb&#x017F;t, die er ehren wollte, kann<lb/>
darunter leiden. Ich habe &#x017F;chon beru&#x0364;hret, daß<lb/>
es nur ein eben &#x017F;o nichtswu&#x0364;rdiger Aberglaube &#x017F;eyn<lb/>
konnte, als wir in dem Zauberer Ismen verach-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">ten,</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[7/0021] Die zweyte Anmerkung betrift das chriſtliche Trauerſpiel insbeſondere. Die Helden deſſelben ſind mehrentheils Maͤrtyrer. Nun leben wir zu einer Zeit, in welcher die Stimme der geſun- den Vernunft zu laut erſchallet, als daß jeder Raſender, der ſich muthwillig, ohne alle Noth, mit Verachtung aller ſeiner buͤrgerlichen Oblie- genheiten, in den Tod ſtuͤrzet, den Titel eines Maͤrtyrers ſich anmaßen duͤrfte. Wir wiſſen itzt zu wohl, die falſchen Maͤrtyrer von den wah- ren zu unterſcheiden; wir verachten jene eben ſo ſehr, als wir dieſe verehren, und hoͤchſtens koͤn- nen ſie uns eine melancholiſche Thraͤne uͤber die Blindheit und den Unſinn auspreſſen, deren wir die Menſchheit uͤberhaupt in ihnen faͤhig er- blicken. Doch dieſe Thraͤne iſt keine von den angenehmen, die das Trauerſpiel erregen will. Wenn daher der Dichter einen Maͤrtyrer zu ſei- nem Helden waͤhlet: daß er ihm ja die lauterſten und triftigſten Bewegungsgruͤnde gebe! daß er ihn ja in die unumgaͤngliche Nothwendigkeit ſetze, den Schritt zu thun, durch den er ſich der Gefahr blos ſtellet! daß er ihn ja den Tod nicht freventlich ſuchen, nicht hoͤhniſch ertrotzen laſſe! Sonſt wird uns ſein frommer Held zum Abſcheu, und die Religion ſelbſt, die er ehren wollte, kann darunter leiden. Ich habe ſchon beruͤhret, daß es nur ein eben ſo nichtswuͤrdiger Aberglaube ſeyn konnte, als wir in dem Zauberer Ismen verach- ten,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/21
Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 7. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/21>, abgerufen am 21.11.2024.