Die zweyte Anmerkung betrift das christliche Trauerspiel insbesondere. Die Helden desselben sind mehrentheils Märtyrer. Nun leben wir zu einer Zeit, in welcher die Stimme der gesun- den Vernunft zu laut erschallet, als daß jeder Rasender, der sich muthwillig, ohne alle Noth, mit Verachtung aller seiner bürgerlichen Oblie- genheiten, in den Tod stürzet, den Titel eines Märtyrers sich anmaßen dürfte. Wir wissen itzt zu wohl, die falschen Märtyrer von den wah- ren zu unterscheiden; wir verachten jene eben so sehr, als wir diese verehren, und höchstens kön- nen sie uns eine melancholische Thräne über die Blindheit und den Unsinn auspressen, deren wir die Menschheit überhaupt in ihnen fähig er- blicken. Doch diese Thräne ist keine von den angenehmen, die das Trauerspiel erregen will. Wenn daher der Dichter einen Märtyrer zu sei- nem Helden wählet: daß er ihm ja die lautersten und triftigsten Bewegungsgründe gebe! daß er ihn ja in die unumgängliche Nothwendigkeit setze, den Schritt zu thun, durch den er sich der Gefahr blos stellet! daß er ihn ja den Tod nicht freventlich suchen, nicht höhnisch ertrotzen lasse! Sonst wird uns sein frommer Held zum Abscheu, und die Religion selbst, die er ehren wollte, kann darunter leiden. Ich habe schon berühret, daß es nur ein eben so nichtswürdiger Aberglaube seyn konnte, als wir in dem Zauberer Ismen verach-
ten,
Die zweyte Anmerkung betrift das chriſtliche Trauerſpiel insbeſondere. Die Helden deſſelben ſind mehrentheils Maͤrtyrer. Nun leben wir zu einer Zeit, in welcher die Stimme der geſun- den Vernunft zu laut erſchallet, als daß jeder Raſender, der ſich muthwillig, ohne alle Noth, mit Verachtung aller ſeiner buͤrgerlichen Oblie- genheiten, in den Tod ſtuͤrzet, den Titel eines Maͤrtyrers ſich anmaßen duͤrfte. Wir wiſſen itzt zu wohl, die falſchen Maͤrtyrer von den wah- ren zu unterſcheiden; wir verachten jene eben ſo ſehr, als wir dieſe verehren, und hoͤchſtens koͤn- nen ſie uns eine melancholiſche Thraͤne uͤber die Blindheit und den Unſinn auspreſſen, deren wir die Menſchheit uͤberhaupt in ihnen faͤhig er- blicken. Doch dieſe Thraͤne iſt keine von den angenehmen, die das Trauerſpiel erregen will. Wenn daher der Dichter einen Maͤrtyrer zu ſei- nem Helden waͤhlet: daß er ihm ja die lauterſten und triftigſten Bewegungsgruͤnde gebe! daß er ihn ja in die unumgaͤngliche Nothwendigkeit ſetze, den Schritt zu thun, durch den er ſich der Gefahr blos ſtellet! daß er ihn ja den Tod nicht freventlich ſuchen, nicht hoͤhniſch ertrotzen laſſe! Sonſt wird uns ſein frommer Held zum Abſcheu, und die Religion ſelbſt, die er ehren wollte, kann darunter leiden. Ich habe ſchon beruͤhret, daß es nur ein eben ſo nichtswuͤrdiger Aberglaube ſeyn konnte, als wir in dem Zauberer Ismen verach-
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Die zweyte Anmerkung betrift das chriſtliche
Trauerſpiel insbeſondere. Die Helden deſſelben
ſind mehrentheils Maͤrtyrer. Nun leben wir
zu einer Zeit, in welcher die Stimme der geſun-
den Vernunft zu laut erſchallet, als daß jeder
Raſender, der ſich muthwillig, ohne alle Noth,
mit Verachtung aller ſeiner buͤrgerlichen Oblie-
genheiten, in den Tod ſtuͤrzet, den Titel eines
Maͤrtyrers ſich anmaßen duͤrfte. Wir wiſſen
itzt zu wohl, die falſchen Maͤrtyrer von den wah-
ren zu unterſcheiden; wir verachten jene eben ſo
ſehr, als wir dieſe verehren, und hoͤchſtens koͤn-
nen ſie uns eine melancholiſche Thraͤne uͤber die
Blindheit und den Unſinn auspreſſen, deren wir
die Menſchheit uͤberhaupt in ihnen faͤhig er-
blicken. Doch dieſe Thraͤne iſt keine von den
angenehmen, die das Trauerſpiel erregen will.
Wenn daher der Dichter einen Maͤrtyrer zu ſei-
nem Helden waͤhlet: daß er ihm ja die lauterſten
und triftigſten Bewegungsgruͤnde gebe! daß er
ihn ja in die unumgaͤngliche Nothwendigkeit
ſetze, den Schritt zu thun, durch den er ſich der
Gefahr blos ſtellet! daß er ihn ja den Tod nicht
freventlich ſuchen, nicht hoͤhniſch ertrotzen laſſe!
Sonſt wird uns ſein frommer Held zum Abſcheu,
und die Religion ſelbſt, die er ehren wollte, kann
darunter leiden. Ich habe ſchon beruͤhret, daß
es nur ein eben ſo nichtswuͤrdiger Aberglaube ſeyn
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 7. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/21>, abgerufen am 21.11.2024.
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