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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769].

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diese unter jener leiden sollte: so, glaube ich, ist
es zuträglicher, wenn eher etwas von dem Stolze
und der Königinn, als von der Liebhaberinn und
der Zärtlichkeit, verloren geht.

Es ist nicht bloß eigensinniger Geschmack,
wenn ich so urtheile; noch weniger ist es meine
Absicht, einem Frauenzimmer ein Kompliment
damit zu machen, die noch immer eine Mei-
sterinn in ihrer Kunst seyn würde, wenn ihr
diese Rolle auch gar nicht gelungen wäre. Ich
weiß einem Künstler, er sey von meinem oder
dem andern Geschlechte, nur eine einzige Schmei-
cheley zu machen; und diese besteht darinn, daß
ich annehme, er sey von aller eiteln Empfindlich-
keit entfernt, die Kunst gehe bey ihm über alles,
er höre gern frey und laut über sich urtheilen,
und wolle sich lieber auch dann und wann falsch,
als seltner beurtheilet wissen. Wer diese Schmei-
cheley nicht versteht, bey dem erkenne ich mich
gar bald irre, und er ist es nicht werth, daß wir
ihn studieren. Der wahre Virtuose glaubt es
nicht einmal, daß wir seine Vollkommenheit ein-
sehen und empfinden, wenn wir auch noch so
viel Geschrey davon machen, ehe er nicht merkt,
daß wir auch Augen und Gefühl für seine
Schwäche haben. Er spottet bey sich über jede
uneingeschränkte Bewunderung, und nur das
Lob desjenigen kitzelt ihn, von dem er weiß, daß
er auch das Herz hat, ihn zu tadeln.

Ich

dieſe unter jener leiden ſollte: ſo, glaube ich, iſt
es zutraͤglicher, wenn eher etwas von dem Stolze
und der Koͤniginn, als von der Liebhaberinn und
der Zaͤrtlichkeit, verloren geht.

Es iſt nicht bloß eigenſinniger Geſchmack,
wenn ich ſo urtheile; noch weniger iſt es meine
Abſicht, einem Frauenzimmer ein Kompliment
damit zu machen, die noch immer eine Mei-
ſterinn in ihrer Kunſt ſeyn wuͤrde, wenn ihr
dieſe Rolle auch gar nicht gelungen waͤre. Ich
weiß einem Kuͤnſtler, er ſey von meinem oder
dem andern Geſchlechte, nur eine einzige Schmei-
cheley zu machen; und dieſe beſteht darinn, daß
ich annehme, er ſey von aller eiteln Empfindlich-
keit entfernt, die Kunſt gehe bey ihm uͤber alles,
er hoͤre gern frey und laut uͤber ſich urtheilen,
und wolle ſich lieber auch dann und wann falſch,
als ſeltner beurtheilet wiſſen. Wer dieſe Schmei-
cheley nicht verſteht, bey dem erkenne ich mich
gar bald irre, und er iſt es nicht werth, daß wir
ihn ſtudieren. Der wahre Virtuoſe glaubt es
nicht einmal, daß wir ſeine Vollkommenheit ein-
ſehen und empfinden, wenn wir auch noch ſo
viel Geſchrey davon machen, ehe er nicht merkt,
daß wir auch Augen und Gefuͤhl fuͤr ſeine
Schwaͤche haben. Er ſpottet bey ſich uͤber jede
uneingeſchraͤnkte Bewunderung, und nur das
Lob desjenigen kitzelt ihn, von dem er weiß, daß
er auch das Herz hat, ihn zu tadeln.

Ich
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[198/0212] dieſe unter jener leiden ſollte: ſo, glaube ich, iſt es zutraͤglicher, wenn eher etwas von dem Stolze und der Koͤniginn, als von der Liebhaberinn und der Zaͤrtlichkeit, verloren geht. Es iſt nicht bloß eigenſinniger Geſchmack, wenn ich ſo urtheile; noch weniger iſt es meine Abſicht, einem Frauenzimmer ein Kompliment damit zu machen, die noch immer eine Mei- ſterinn in ihrer Kunſt ſeyn wuͤrde, wenn ihr dieſe Rolle auch gar nicht gelungen waͤre. Ich weiß einem Kuͤnſtler, er ſey von meinem oder dem andern Geſchlechte, nur eine einzige Schmei- cheley zu machen; und dieſe beſteht darinn, daß ich annehme, er ſey von aller eiteln Empfindlich- keit entfernt, die Kunſt gehe bey ihm uͤber alles, er hoͤre gern frey und laut uͤber ſich urtheilen, und wolle ſich lieber auch dann und wann falſch, als ſeltner beurtheilet wiſſen. Wer dieſe Schmei- cheley nicht verſteht, bey dem erkenne ich mich gar bald irre, und er iſt es nicht werth, daß wir ihn ſtudieren. Der wahre Virtuoſe glaubt es nicht einmal, daß wir ſeine Vollkommenheit ein- ſehen und empfinden, wenn wir auch noch ſo viel Geſchrey davon machen, ehe er nicht merkt, daß wir auch Augen und Gefuͤhl fuͤr ſeine Schwaͤche haben. Er ſpottet bey ſich uͤber jede uneingeſchraͤnkte Bewunderung, und nur das Lob desjenigen kitzelt ihn, von dem er weiß, daß er auch das Herz hat, ihn zu tadeln. Ich

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Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 198. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/212>, abgerufen am 21.11.2024.