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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769].

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strengsten Wahrheit hervor bringen können.
Der Dichter kann die Kunst besitzen, uns, durch
Schönheiten des Detail, über Mißverhältnisse
dieser Art zu täuschen; aber er täuscht uns nur
einmal, und sobald wir wieder kalt werden,
nehmen wir den Beyfall, den er uns abgelau-
schet hat, zurück. Dieses auf die vierte Scene
des dritten Akts angewendet, wird man finden,
daß die Reden und das Betragen der Sophronia
die Clorinde zwar zum Mitleiden hätte bewegen
können, aber viel zu unvermögend sind, Bekeh-
rung an einer Person zu wirken, die gar keine
Anlage zum Enthusiasmus hat. Beym Tasso
nimmt Clorinde auch das Christenthum an; aber
in ihrer letzten Stunde; aber erst, nachdem sie
kurz zuvor erfahren, daß ihre Aeltern diesem
Glauben zugethan gewesen: feine, erhebliche
Umstände, durch welche die Wirkung einer hö-
hern Macht in die Reihe natürlicher Begeben-
heiten gleichsam mit eingeflochten wird. Nie-
mand hat es besser verstanden, wie weit man in
diesem Stücke auf dem Theater gehen dürfe, als
Voltaire. Nachdem die empfindliche, edle
Seele des Zamor, durch Beyspiel und Bitten,
durch Großmuth und Ermahnungen bestürmet,
und bis in das Innerste erschüttert worden, läßt
er ihn doch die Wahrheit der Religion, an deren
Bekennern er so viel Großes sieht, mehr vermu-
then, als glauben. Und vielleicht würde Vol-

taire

ſtrengſten Wahrheit hervor bringen koͤnnen.
Der Dichter kann die Kunſt beſitzen, uns, durch
Schoͤnheiten des Detail, uͤber Mißverhaͤltniſſe
dieſer Art zu taͤuſchen; aber er taͤuſcht uns nur
einmal, und ſobald wir wieder kalt werden,
nehmen wir den Beyfall, den er uns abgelau-
ſchet hat, zuruͤck. Dieſes auf die vierte Scene
des dritten Akts angewendet, wird man finden,
daß die Reden und das Betragen der Sophronia
die Clorinde zwar zum Mitleiden haͤtte bewegen
koͤnnen, aber viel zu unvermoͤgend ſind, Bekeh-
rung an einer Perſon zu wirken, die gar keine
Anlage zum Enthuſiasmus hat. Beym Taſſo
nimmt Clorinde auch das Chriſtenthum an; aber
in ihrer letzten Stunde; aber erſt, nachdem ſie
kurz zuvor erfahren, daß ihre Aeltern dieſem
Glauben zugethan geweſen: feine, erhebliche
Umſtaͤnde, durch welche die Wirkung einer hoͤ-
hern Macht in die Reihe natuͤrlicher Begeben-
heiten gleichſam mit eingeflochten wird. Nie-
mand hat es beſſer verſtanden, wie weit man in
dieſem Stuͤcke auf dem Theater gehen duͤrfe, als
Voltaire. Nachdem die empfindliche, edle
Seele des Zamor, durch Beyſpiel und Bitten,
durch Großmuth und Ermahnungen beſtuͤrmet,
und bis in das Innerſte erſchuͤttert worden, laͤßt
er ihn doch die Wahrheit der Religion, an deren
Bekennern er ſo viel Großes ſieht, mehr vermu-
then, als glauben. Und vielleicht wuͤrde Vol-

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[10/0024] ſtrengſten Wahrheit hervor bringen koͤnnen. Der Dichter kann die Kunſt beſitzen, uns, durch Schoͤnheiten des Detail, uͤber Mißverhaͤltniſſe dieſer Art zu taͤuſchen; aber er taͤuſcht uns nur einmal, und ſobald wir wieder kalt werden, nehmen wir den Beyfall, den er uns abgelau- ſchet hat, zuruͤck. Dieſes auf die vierte Scene des dritten Akts angewendet, wird man finden, daß die Reden und das Betragen der Sophronia die Clorinde zwar zum Mitleiden haͤtte bewegen koͤnnen, aber viel zu unvermoͤgend ſind, Bekeh- rung an einer Perſon zu wirken, die gar keine Anlage zum Enthuſiasmus hat. Beym Taſſo nimmt Clorinde auch das Chriſtenthum an; aber in ihrer letzten Stunde; aber erſt, nachdem ſie kurz zuvor erfahren, daß ihre Aeltern dieſem Glauben zugethan geweſen: feine, erhebliche Umſtaͤnde, durch welche die Wirkung einer hoͤ- hern Macht in die Reihe natuͤrlicher Begeben- heiten gleichſam mit eingeflochten wird. Nie- mand hat es beſſer verſtanden, wie weit man in dieſem Stuͤcke auf dem Theater gehen duͤrfe, als Voltaire. Nachdem die empfindliche, edle Seele des Zamor, durch Beyſpiel und Bitten, durch Großmuth und Ermahnungen beſtuͤrmet, und bis in das Innerſte erſchuͤttert worden, laͤßt er ihn doch die Wahrheit der Religion, an deren Bekennern er ſo viel Großes ſieht, mehr vermu- then, als glauben. Und vielleicht wuͤrde Vol- taire

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Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/24>, abgerufen am 21.11.2024.