taire auch diese Vermuthung unterdrückt haben, wenn nicht zur Beruhigung des Zufchauers etwas hätte geschehen müssen.
Selbst der Polyeukt des Corneille ist, in Ab- sicht auf beide Anmerkungen, tadelhaft; und wenn es seine Nachahmungen immer mehr ge- worden sind, so dürfte die erste Tragödie, die den Namen einer christlichen verdienet, ohne Zweifel noch zu erwarten seyn. Ich meyne ein Stück, in welchem einzig der Christ als Christ uns interessiret. -- Ist ein solches Stück aber auch wohl möglich? Ist der Charakter des wah- ren Christen nicht etwa ganz untheatralisch? Streiten nicht etwa die stille Gelassenheit, die unveränderliche Sanftmuth, die seine wesent- lichsten Züge sind, mit dem ganzen Geschäfte der Tragödie, welches Leidenschaften durch Leiden- schaften zu reinigen sucht? Widerspricht nicht etwa seine Erwartung einer belohnenden Glück- seligkeit nach diesem Leben, der Uneigennützigkeit, mit welcher wir alle große und gute Handlungen auf der Bühne unternommen und vollzogen zu sehen wünschen?
Bis ein Werk des Genies, von dem man nur aus der Erfahrung lernen kann, wie viel Schwie- rigkeiten es zu übersteigen vermag, diese Bedenk- lichkeiten unwidersprechlich widerlegt, wäre also mein Rath: -- man liesse alle bisherige christ- liche Trauerspiele unaufgeführet. Dieser Rath,
wel-
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taire auch dieſe Vermuthung unterdruͤckt haben, wenn nicht zur Beruhigung des Zufchauers etwas haͤtte geſchehen muͤſſen.
Selbſt der Polyeukt des Corneille iſt, in Ab- ſicht auf beide Anmerkungen, tadelhaft; und wenn es ſeine Nachahmungen immer mehr ge- worden ſind, ſo duͤrfte die erſte Tragoͤdie, die den Namen einer chriſtlichen verdienet, ohne Zweifel noch zu erwarten ſeyn. Ich meyne ein Stuͤck, in welchem einzig der Chriſt als Chriſt uns intereſſiret. — Iſt ein ſolches Stuͤck aber auch wohl moͤglich? Iſt der Charakter des wah- ren Chriſten nicht etwa ganz untheatraliſch? Streiten nicht etwa die ſtille Gelaſſenheit, die unveraͤnderliche Sanftmuth, die ſeine weſent- lichſten Zuͤge ſind, mit dem ganzen Geſchaͤfte der Tragoͤdie, welches Leidenſchaften durch Leiden- ſchaften zu reinigen ſucht? Widerſpricht nicht etwa ſeine Erwartung einer belohnenden Gluͤck- ſeligkeit nach dieſem Leben, der Uneigennuͤtzigkeit, mit welcher wir alle große und gute Handlungen auf der Buͤhne unternommen und vollzogen zu ſehen wuͤnſchen?
Bis ein Werk des Genies, von dem man nur aus der Erfahrung lernen kann, wie viel Schwie- rigkeiten es zu uͤberſteigen vermag, dieſe Bedenk- lichkeiten unwiderſprechlich widerlegt, waͤre alſo mein Rath: — man lieſſe alle bisherige chriſt- liche Trauerſpiele unaufgefuͤhret. Dieſer Rath,
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taire auch dieſe Vermuthung unterdruͤckt haben,
wenn nicht zur Beruhigung des Zufchauers
etwas haͤtte geſchehen muͤſſen.
Selbſt der Polyeukt des Corneille iſt, in Ab-
ſicht auf beide Anmerkungen, tadelhaft; und
wenn es ſeine Nachahmungen immer mehr ge-
worden ſind, ſo duͤrfte die erſte Tragoͤdie, die
den Namen einer chriſtlichen verdienet, ohne
Zweifel noch zu erwarten ſeyn. Ich meyne ein
Stuͤck, in welchem einzig der Chriſt als Chriſt
uns intereſſiret. — Iſt ein ſolches Stuͤck aber
auch wohl moͤglich? Iſt der Charakter des wah-
ren Chriſten nicht etwa ganz untheatraliſch?
Streiten nicht etwa die ſtille Gelaſſenheit, die
unveraͤnderliche Sanftmuth, die ſeine weſent-
lichſten Zuͤge ſind, mit dem ganzen Geſchaͤfte der
Tragoͤdie, welches Leidenſchaften durch Leiden-
ſchaften zu reinigen ſucht? Widerſpricht nicht
etwa ſeine Erwartung einer belohnenden Gluͤck-
ſeligkeit nach dieſem Leben, der Uneigennuͤtzigkeit,
mit welcher wir alle große und gute Handlungen
auf der Buͤhne unternommen und vollzogen zu
ſehen wuͤnſchen?
Bis ein Werk des Genies, von dem man nur
aus der Erfahrung lernen kann, wie viel Schwie-
rigkeiten es zu uͤberſteigen vermag, dieſe Bedenk-
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 11. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/25>, abgerufen am 24.11.2024.
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