so eher bedienen zu können, da ich angemerkt hatte, daß die Alten selbst es nicht für nothwen- dig gehalten, ein Stück eben nach seinem Hel- den zu benennen, sondern es ohne Bedenken auch wohl nach dem Chore benannt haben, der an der Handlung doch weit weniger Theil hat, und weit episodischer ist, als Rodogune; so hat z. E. Sophokles eines seiner Trauerspiele die Trachinerinnen genannt, welches man itzi- ger Zeit schwerlich anders, als den sterbenden Herkules nennen würde." Diese Bemerkung ist an und für sich sehr richtig; die Alten hielten den Titel für ganz unerheblich; sie glaubten im geringsten nicht, daß er den Inhalt angeben müsse; genug, wenn dadurch ein Stück von dem andern unterschieden ward, und hiezu ist der kleinste Umstand hinlänglich. Allein, gleich- wohl glaube ich schwerlich, daß Sophokles das Stück, welches er die Trachinerinnen über- schrieb, würde haben Deianira nennen wollen. Er stand nicht an, ihm einen nichtsbedeutenden Titel zu geben, aber ihm einen verführerischen Titel zu geben, einen Titel, der unsere Auf- merksamkeit auf einen falschen Punkt richtet, dessen möchte er sich ohne Zweifel mehr bedacht haben. Die Besorgniß des Corneille gieng hiernächst zu weit; wer die ägyptische Cleopatra kennet, weiß auch, daß Syrien nicht Aegypten ist, weiß, daß mehr Könige und Königinnen
einer-
ſo eher bedienen zu koͤnnen, da ich angemerkt hatte, daß die Alten ſelbſt es nicht fuͤr nothwen- dig gehalten, ein Stuͤck eben nach ſeinem Hel- den zu benennen, ſondern es ohne Bedenken auch wohl nach dem Chore benannt haben, der an der Handlung doch weit weniger Theil hat, und weit epiſodiſcher iſt, als Rodogune; ſo hat z. E. Sophokles eines ſeiner Trauerſpiele die Trachinerinnen genannt, welches man itzi- ger Zeit ſchwerlich anders, als den ſterbenden Herkules nennen wuͤrde.〟 Dieſe Bemerkung iſt an und fuͤr ſich ſehr richtig; die Alten hielten den Titel fuͤr ganz unerheblich; ſie glaubten im geringſten nicht, daß er den Inhalt angeben muͤſſe; genug, wenn dadurch ein Stuͤck von dem andern unterſchieden ward, und hiezu iſt der kleinſte Umſtand hinlaͤnglich. Allein, gleich- wohl glaube ich ſchwerlich, daß Sophokles das Stuͤck, welches er die Trachinerinnen uͤber- ſchrieb, wuͤrde haben Deianira nennen wollen. Er ſtand nicht an, ihm einen nichtsbedeutenden Titel zu geben, aber ihm einen verfuͤhreriſchen Titel zu geben, einen Titel, der unſere Auf- merkſamkeit auf einen falſchen Punkt richtet, deſſen moͤchte er ſich ohne Zweifel mehr bedacht haben. Die Beſorgniß des Corneille gieng hiernaͤchſt zu weit; wer die aͤgyptiſche Cleopatra kennet, weiß auch, daß Syrien nicht Aegypten iſt, weiß, daß mehr Koͤnige und Koͤniginnen
einer-
<TEI><text><body><divn="1"><p><cit><quote><pbfacs="#f0245"n="231"/>ſo eher bedienen zu koͤnnen, da ich angemerkt<lb/>
hatte, daß die Alten ſelbſt es nicht fuͤr nothwen-<lb/>
dig gehalten, ein Stuͤck eben nach ſeinem Hel-<lb/>
den zu benennen, ſondern es ohne Bedenken<lb/>
auch wohl nach dem Chore benannt haben, der<lb/>
an der Handlung doch weit weniger Theil hat,<lb/>
und weit epiſodiſcher iſt, als Rodogune; ſo<lb/>
hat z. E. Sophokles eines ſeiner Trauerſpiele<lb/>
die Trachinerinnen genannt, welches man itzi-<lb/>
ger Zeit ſchwerlich anders, als den ſterbenden<lb/>
Herkules nennen wuͤrde.〟</quote></cit> Dieſe Bemerkung iſt<lb/>
an und fuͤr ſich ſehr richtig; die Alten hielten<lb/>
den Titel fuͤr ganz unerheblich; ſie glaubten im<lb/>
geringſten nicht, daß er den Inhalt angeben<lb/>
muͤſſe; genug, wenn dadurch ein Stuͤck von<lb/>
dem andern unterſchieden ward, und hiezu iſt<lb/>
der kleinſte Umſtand hinlaͤnglich. Allein, gleich-<lb/>
wohl glaube ich ſchwerlich, daß Sophokles das<lb/>
Stuͤck, welches er die Trachinerinnen uͤber-<lb/>ſchrieb, wuͤrde haben Deianira nennen wollen.<lb/>
Er ſtand nicht an, ihm einen nichtsbedeutenden<lb/>
Titel zu geben, aber ihm einen verfuͤhreriſchen<lb/>
Titel zu geben, einen Titel, der unſere Auf-<lb/>
merkſamkeit auf einen falſchen Punkt richtet,<lb/>
deſſen moͤchte er ſich ohne Zweifel mehr bedacht<lb/>
haben. Die Beſorgniß des Corneille gieng<lb/>
hiernaͤchſt zu weit; wer die aͤgyptiſche Cleopatra<lb/>
kennet, weiß auch, daß Syrien nicht Aegypten<lb/>
iſt, weiß, daß mehr Koͤnige und Koͤniginnen<lb/><fwplace="bottom"type="catch">einer-</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[231/0245]
ſo eher bedienen zu koͤnnen, da ich angemerkt
hatte, daß die Alten ſelbſt es nicht fuͤr nothwen-
dig gehalten, ein Stuͤck eben nach ſeinem Hel-
den zu benennen, ſondern es ohne Bedenken
auch wohl nach dem Chore benannt haben, der
an der Handlung doch weit weniger Theil hat,
und weit epiſodiſcher iſt, als Rodogune; ſo
hat z. E. Sophokles eines ſeiner Trauerſpiele
die Trachinerinnen genannt, welches man itzi-
ger Zeit ſchwerlich anders, als den ſterbenden
Herkules nennen wuͤrde.〟 Dieſe Bemerkung iſt
an und fuͤr ſich ſehr richtig; die Alten hielten
den Titel fuͤr ganz unerheblich; ſie glaubten im
geringſten nicht, daß er den Inhalt angeben
muͤſſe; genug, wenn dadurch ein Stuͤck von
dem andern unterſchieden ward, und hiezu iſt
der kleinſte Umſtand hinlaͤnglich. Allein, gleich-
wohl glaube ich ſchwerlich, daß Sophokles das
Stuͤck, welches er die Trachinerinnen uͤber-
ſchrieb, wuͤrde haben Deianira nennen wollen.
Er ſtand nicht an, ihm einen nichtsbedeutenden
Titel zu geben, aber ihm einen verfuͤhreriſchen
Titel zu geben, einen Titel, der unſere Auf-
merkſamkeit auf einen falſchen Punkt richtet,
deſſen moͤchte er ſich ohne Zweifel mehr bedacht
haben. Die Beſorgniß des Corneille gieng
hiernaͤchſt zu weit; wer die aͤgyptiſche Cleopatra
kennet, weiß auch, daß Syrien nicht Aegypten
iſt, weiß, daß mehr Koͤnige und Koͤniginnen
einer-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 231. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/245>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.